Wo Dein Herz Zu Hause Ist
er nicht mal im Traum kaufen würde.
«Der hier gefällt mir», sagte er zum Beispiel und deutete auf einen Mini. «Damit würde ich gern eine Probefahrt machen.»
Der Verkäufer sah ihn seltsam an und musterte ihn von oben bis unten. Er schätzte diesen merkwürdigen Herrn auf mindestens einsneunzig bis einsfünfundneunzig. Dann sah er wieder das winzige Auto an. «Sind Sie sicher, Sir, dass Sie nicht lieber einen größeren Wagen probefahren möchten?»
«Ja, der Sir möchte den Mini testen», sagte James mit fester Stimme. Dann stieg er ein, rutschte mit dem Sitz so weit wie möglich zurück und fuhr mit dem Kopf mehr oder weniger zwischen den Knien und einem zirkusreifen Winken vom Gelände des Autohauses.
Mit solchen Unternehmungen hielt er sich ein paar Tage einigermaßen bei Laune, doch gegen seine innere Verletztheit konnten sie nichts ausrichten. Mit Alkohol wollte er nicht versuchen, seine Probleme zu lösen, weil er befürchtete, dann genauso rührselig zu werden wie sein Vater, der sich an Weihnachten regelmäßig betrank und mit Tränen in den Augen und schleppender Stimme immer wieder erzählte, was für ein Versager er gewesen war, bevor er James’ Mutter kennengelernt hatte und dass er esohne sie nicht geschafft hätte, etwas aus sich zu machen. Er schrieb seinen Erfolg nur ihr zu. James’ Gefühle gegenüber Harri waren vergleichbar. Sie hatte ihn zwar nicht vollkommen verändert, aber sie hatte ihn als genau den Mann akzeptiert, der er war, und das verschaffte ihm denselben unglaublichen Stolz, über den sein Vater jedes Jahr fast zu weinen begann. Doch das hatte er nun verloren. Er fühlte sich tief verletzt und unvorstellbar einsam, so einsam, dass er sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder einem Menschen wirklich nahe zu kommen.
Dann hatte das Telefon angefangen, ständig zu klingeln.
Als Erste hatte Susan angerufen: «Ich muss dir was erzählen …»
Dann Aidan: «Hast du schon gehört …»
Danach war Duncan am Apparat: «Bitte, James. Sie liebt dich. Sie braucht dich …»
Und schließlich hatte sich noch Melissa gemeldet: «Ich weiß, dass die anderen schon angerufen haben, und ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber …»
Danach war wieder Duncan dran gewesen: «James, auch wenn du versucht hast, sie anzurufen …» Und nochmal Duncan, und nochmal und nochmal, bis er schließlich sein Telefon ausgeschaltet hatte. Zuerst hatte James überhaupt nicht gewusst, wie er reagieren sollte. Was wollten diese Leute ihm überhaupt sagen? Dass seine Hochzeit aus einem anderen Grund als mangelnder Liebe abgeblasen worden war? Versuchten sie, Harris panische Angst vorm Heiraten irgendwie damit zu begründen, dass dieses Mädchen im Wald von Wicklow gestorben war, damit, dass Harris Leben auf einer Lüge beruhte? Waren das stichhaltige Argumente?
Und Harri, sie tat ihm so leid, bestimmt litt sie sehr. Diese ganze Sache musste der reine Albtraum für sie sein! Manches erschien ihm nun in einem anderen Licht. Ihre Ängste, die sich früher nicht hatten erklären lassen, schienen nun nicht mehr ganz unbegründet. Dieses Gefühl der Unbehaglichkeit, der Eindruck, nicht dazuzugehören, der sie dazu gebracht hatte, sich übermäßig anzupassen, obwohl das nur dazu führte, dass sie auffiel – all das ergab nun einen Sinn. Genauso ihre liebenswerte Unfähigkeit zu lügen, obwohl sie aus einem Haus stammte, in dem die Verschleierung der Wahrheit offensichtlich zum Normalzustand gehörte. In James’ Augen hatte Harri nie richtig zu ihrer Familie gepasst. Nicht zu ihrem Bruder, der, wenn er auch mutig genug war, trotz der allgegenwärtigen Ablehnung von Schwulen, sein Leben zu leben, dennoch stets sorgfältig darauf achtete, eventuellen Lästerern keinen Anlass zum Tratschen zu geben, und sich mit dem latenten Selbsthass herumschlug, den dieses feige Verhalten auslöste. Nicht zu ihrer Mutter, die sich als empfindsame und labile Dame aus einer vergangenen Epoche behandeln ließ, obwohl sie in Wahrheit eine unbeugsame und starke Frau war, die mit ihrer vorgeblichen Schwäche die ganze Familie beherrschte. Nicht zu ihrem Vater, der sich schon lange damit arrangiert hatte, ein Doppelleben zu führen. In der einen Hälfte war er der Detective, der bei der Arbeit mit Hass, Intoleranz, Wut, Gewalt und Tod zu tun hatte, und in der anderen war er der hingebungsvolle Ehemann, der sich mit der Rolle des leutseligen Königs im Schloss seiner Frau zufriedengab.
Für James war Harri anders
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