Wo Dein Herz Zu Hause Ist
hat hinten gestanden. Er hat ausgesehen, als ob er sich unbehaglich fühlte. Als ob er meinte, er hätte in der Kirche nichts verloren. Kann ja sein, dass er das denkt, aber er hat schließlich genauso gut das Recht, sich zu Tode langweilen zu lassen, wie alle anderen auch. Wenn ich von zu Hause ausgezogen bin, gehe ich nie mehr zum Gottesdienst. Ich gehe nie mehr zum Gottesdienst, und ich esse zum Frühstück Torte. Wenn es nur schon so weit wäre.
Ich habe
ihn
neben Dr. B. stehen sehen. Ich glaub’s einfach nicht, dass er die Nerven hat, in die Kirche zu kommen. Er hat sich mit den Händen an seinen Hut geklammert. Was für ein Kriecher. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Er ist sogar zur Kommunion gegangen. Er ist zur Kommunion gegangen und Dr. B. nicht. Das sagt schon alles. Es geht wirklich jämmerlich zu auf der Welt. Wie kann es sein, dass ein guter Mensch dazu gebracht wird, sich schlecht zu fühlen, während so ein brutaler Widerling sich überall akzeptiert fühlen darf? Ist es normal, so fies drauf zu sein? Ist es normal, andere zu quälen? Wenn es so ist, weiß ich nicht, wo Gott in dieses System passen soll.
Father Ryan könnte eigentlich gleich bei uns einziehen. Heute Nachmittag ist er schon wieder vorbeigekommen. Mam hat ihm versprochen, zur Gebetsgruppe zu kommen. Sie fühlt sich schlecht, weil ihre Ehe schiefgegangen ist. Sie fühlt sich schlecht, weil sie Gott enttäuscht hat, indem sie sich und mich vor diesem Schweinehund schützt. So hat ihn Matthew genannt, als ich ihm erzählt habe, was
er
Mam angetan hat. Was
er
bei mir versucht hat, habe ich ihm nicht erzählt. Es ist auch unwichtig. Ich habe ihn davon abgehalten. Es ist wirklich unwichtig. Father Ryan hat mit
ihm
geredet, und er hat Father Ryan gesagt, er würde Mam nie wieder wehtun. Father Ryan glaubt ihm. Father Ryan ist eben ein Dummkopf. Bis jetzt betet sie darum, dass sie
ihm
verzeihen kann, aber sie hat ihm noch nicht erlaubt, zurückzukommen. Ich kann nichts weiter tun als abwarten. Wie ich das hasse.
Als ich mich gestern Abend mit Matthew in Devil’s Glen getroffen habe, schienen all diese Probleme weit weg zu sein. Er hatte eine müffelnde Decke aus dem Pferdestall mitgebracht und drei Dosen Bier aus dem Kühlschrank seines Dad mitgehen lassen. Ich habe eine getrunken, er zwei. Ich finde, Bier schmeckt überhaupt nicht, aber irgendwann ist mir der Geschmack nicht mehr aufgefallen. Komisch, was? Wir haben am Wasserfall gesessen, aber nicht so nah an der Kante, dass wir hätten reinfallen können, wie dieses beschränkte Pärchen vor einem halben Jahr. Sie ist fast gestorben – inzwischen geht es den beiden wieder gut, aber sie haben sich bald nach dieser Sache getrennt. Der Himmel war vollkommen schwarz, man hat keinen einzigen Stern gesehen, nur den Mond. Matthew hat zum Himmel raufgesehen und mit tiefer, verstellter Stimme gesagt: «Eine Kolonie der Menschen auf dem Mond – eine ganze Generation wurde dort geboren und lebt eine Viertelmillion Meilen von
der Erde entfernt.» Es klingt total blöd, wenn ich es jetzt aufschreibe, aber es war lustig, als er es sagte. Er ist ein Riesenfan von
2001: Odyssee im Weltraum.
Er meinte, entweder lieben oder hassen die Leute den Film, zwischendrin gibt’s nichts. Da hat er recht. Ich finde den Film total bescheuert. Matthew hatte eine Taschenlampe eingesteckt, damit wir auf dem Rückweg nicht über irgendwelche Wurzeln stolpern. Wir haben uns auf die Decke gesetzt und uns unterhalten. Ich habe ihm von Mam und der Schule und von meiner Lehrerin erzählt, die gesagt hat, ich sei sehr gut in Englisch, aber nicht diszipliniert genug. Ich beteilige mich zu wenig am Unterricht, und sie will, dass ich endlich aufhöre, so viel zu schwätzen. Er hat über seine Mutter und ihren Tod gesprochen, über seinen Dad und dessen Freundinnen, über das Internat und darüber, dass er mal mit einem Bambusstock geschlagen worden ist. Dann hat er mir die Narbe gezeigt, die er davon auf der Hand hat. Sie war klein, aber das liegt vielleicht daran, dass die Sache schon lange her ist. Inzwischen achtet er immer darauf, nicht aufzufallen. Er will einfach durchhalten, bis er mit der Schule fertig ist und sein eigenes Leben leben kann. Er will nach Amerika. Warum wollen eigentlich alle nach Amerika? Er meint, sein Dad würde ihn nie so reiten lassen, wie er selbst es will. Er ist zu groß, um Jockey zu werden, mindestens einsachtzig oder einsfünfundachtzig. Er meint, er will gar kein
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