Wo Dein Herz Zu Hause Ist
als alle anderen Ryans, weil sie einfach und ehrlich und immer nur Harri gewesen war. Malcolm war fasziniert von dieser Theorie. James stelltesich endlose Fragen. Lag der Grund für Harris Andersartigkeit tatsächlich darin, dass sie kein Ryan-Blut in den Adern hatte? War ihr ererbter Charakter so stark, dass er so viele soziale und erzieherische Einflüsse ausschaltete? Hatte sie es irgendwo in ihrem Inneren tatsächlich von Anfang an gewusst? Konnte es sein, dass die symbolische Übergabe der Tochter vom Brautvater an den Ehemann irgendeinen Schalter bei ihr umlegte? Oder war das kompletter Blödsinn? War einfach alles nur Zufall? Und hatte überhaupt etwas von dem, was mit Harri vorging, mit ihm zu tun?
Die letzte Frage versuchten der geduldige Malcolm und er gemeinsam bei einer Pizza zu beantworten. Es hatte etwas mit ihm zu tun. Schließlich liebte er sie, und deshalb würde er sie so lange suchen, bis er sie fand, und sich davon überzeugen, dass es ihr einigermaßen gutging, bevor er sich wieder verabschiedete. Vielleicht hatte ihre Angst vorm Heiraten etwas mit der Lüge zu tun, die ihr Leben bestimmt hatte, vielleicht aber auch nicht. Doch ganz gleich, was zutraf, sie hatte im Moment andere Sorgen als ihre Beziehung. Sie musste mit sich selbst zurechtkommen, bevor sie wieder an ihn oder an ihr gemeinsames Leben denken konnte, falls es für dieses gemeinsame Leben überhaupt noch eine Chance gab. James hoffte darauf. Sie brauchte Zeit für sich allein. Er würde auf sie warten, jedenfalls sagte er sich das selbst, denn nur so konnte er es über sich bringen, der verzweifelten, verletzlichen, deprimierten, unschuldigen, wunderschönen Harri Auf Wiedersehen zu sagen.
In Dublin aß James nie stark Gebratenes oder Frittiertes. Seinem Vater hatte die Vorliebe für gebratenen Schinken, Eier und Pommes frites hohe Cholesterinwerte,zwei Herzinfarkte und einen Bypass eingebracht. Doch in Wexford erlaubte sich James gerne eine Frühstückssünde. Der Metzger am Ort verkaufte die besten Würstchen, himmlische Blutwurst und einen mageren Räucherschinken, bei dessen aromatischem Geruch James das Wasser im Mund zusammenlief.
James war jetzt schon drei Tage da, und es war für ihn eine ausgemachte Sache, dass er sich dieses Luxusfrühstück gönnen würde. Zunächst war Harris Magen zu empfindlich für intensive Küchengerüche gewesen, doch am Vortag hatte sie Fortschritte gemacht. James hatte sie dazu überreden können, aufzustehen, sich anzuziehen und mit ihm einen Spaziergang zu machen. Sie waren über den grünen Hügel gegangen, hinter dem die Sanddünen und der Strand lagen. Es war Ebbe gewesen, sodass sie mehr auf das Wasser zugegangen waren, als am Strand entlangzulaufen. Sie ließen sich den frischen Wind ins Gesicht blasen, und Harri atmete tief durch. Als die Flut kam, kehrten sie auf den Hügel zurück, setzten sich nebeneinander und sahen über die Irische See in Richtung Wales hinüber.
«Tut mir leid, dass ich praktisch nur geschlafen habe, seit du angekommen bist», sagte Harri.
«Warum? Das war doch gut. Du hattest es nötig. Du hast ausgesehen wie der wandelnde Tod.»
«So habe ich mich auch gefühlt.»
«Und jetzt?»
«Jetzt ist es besser. Ich habe den Eindruck, wieder einigermaßen klar denken zu können.»
«Sehr gut.» Er lachte. «Klar denken zu können ist immer ein Vorteil.»
«Ja.» Sie lächelte und lachte dann sogar ein bisschen.
«Du wirst dich wieder erholen», sagte er, «ganz bestimmt.»
«Ich habe mich schon in dem Moment besser gefühlt, in dem ich dich gesehen habe. Ich weiß, dass du es mir nicht ansehen konntest, aber so war es.»
Er hörte Wehmut in ihrer Stimme, und das machte ihn unruhig. Er wollte nicht, dass sie glaubte, er kümmere sich um die Frau, die er liebte, um sofort wieder zu ihr zurückzukehren. Gleichzeitig wollte er sie um nichts in der Welt enttäuschen. Er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie sie sich fühlte, und befürchtete, sie noch zusätzlich durcheinanderzubringen. Er musste es ihr erklären.
«Weißt du, du bist vermutlich die beste Frau, die ich je im Leben kennengelernt habe. Du stellst die Bedürfnisse anderer immer an die erste Stelle, auch wenn du dadurch Nachteile hast. Du kannst richtig zuhören, das ist eine Seltenheit. Du sagst, was du denkst, und gleichzeitig machst du dir Gedanken um die anderen, sogar, wenn sie dich enttäuscht haben. Du bist stark, auch wenn du das selbst nicht weißt. Du glaubst, dass George der Stärkere von
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