Wo Dein Herz Zu Hause Ist
nichts.
«Also, lassen Sie uns zur Sache kommen – warum sind Sie zu mir gekommen?», fragte Vincent entspannt.
Schweigen.
Vincent nickte. «Wie wäre es, wenn Sie anfangen, Susan. Warum sind Sie hier?»
Susan riss leicht geschockt die Augen auf. Sie hatte nicht erwartet, so schnell etwas Konkretes sagen zu müssen, sondern geglaubt, dass der Therapeut es langsam angehen lassen würde und erstmal ein bisschen Smalltalk dran wäre. Dass er zum Beispiel fragen würde, wie sie sich kennengelernt hatten. Das war eine tolle Geschichte. Oder dass er fragen würde, ob sie Kinder hatten, sodass sie von Beth und ihren schulischen Erfolgen oder ihrer wundervollen Singstimme erzählen konnten. Sie hätte so viel zu berichten gehabt. In sechsundzwanzig Jahren erlebt man eine Menge – sie hätten auch davon sprechen können, wie schnell die Zeit vergeht. Oder sie hätten mit einem ganz unverfänglichen Thema anfangen können; zum Beispiel damit, dass es für Mitte Mai ungewöhnlich warm war oder dass am nächsten Abend das Kirov-Ballett im
Point
auftreten würde. Aber auf keinen Fall war sie darauf gefasst gewesen, dass er eine so konkrete Frage wie «Warum sind Sie hier?» stellen würde.
Warum bin ich hier? Oh, mir ist ja so schlecht
. Sie fühlte sich wie ausgehöhlt, und die Frage des Therapeuten schien mit einem Schlag ihre gesamte Denkfähigkeit außer Kraft gesetzt zu haben. Erneut herrschte Schweigen.
«Andrew?»
Andrew tat nicht einmal so, als würde er sich Mühe geben, sondern starrte einfach nur vor sich hin.
Vincent nickte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Das Schweigen dehnte sich aus. Andrew sah scheinbar gelangweilt aus dem Fenster, doch seine im Schoß verkrampften Hände verrieten, dass er nicht so entspannt war, wie er vorgab. Susans Nervosität dagegen war deutlich erkennbar. Ihre Finger bewegten sich unruhig, sie schwitzte und fuhr sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen. Vincent schenkte ihr ein Glas Wasser ein, setzte sich dann wieder und betrachtete die beiden.
Susan hätte am liebsten angefangen zu weinen.
Nach einer guten halben Stunde wandte sich Andrew ihr zu, sah sie aber nicht direkt an.
«Bist du fertig? Können wir wieder gehen?»
Sie nickte traurig, und sie gingen ohne ein weiteres Wort.
Das hätten wir uns wirklich sparen können
. Sie fuhren mit zwei Autos. Susan fühlte sich außerstande, sofort in ihr Haus des Schweigens zurückzukehren, und fuhr ziellos durch die Stadt. Sie hatte das Autoradio angestellt, doch von der Sendung bekam sie nichts mit. Stattdessen dachte sie an das, was passiert war, und ließ ihre Gedanken in das Doppelzimmer im zweiten Stock des Shelbourne Hotels zurückwandern.
Es war an einem Nachmittag mitten im Winter gewesen, und sie hatte gebebt vor einer Lust, von der sie vergessen hatte, dass sie sie empfinden konnte. Der Bauunternehmer namens Keith kam auf sie zu, um ihr ein Glas Wodka zu reichen, das er aus einer Flasche der gut sortierten Minibar eingeschenkt hatte. Sie hatte es auf einen Zug leergetrunken, er hatte sie angelacht, und siehatte mitgelacht. Es war ihr peinlich gewesen, dass sie das Zittern ihrer Hände nicht unterdrücken konnte.
«Ich bin nervös, und du weißt, dass ich dazu auch allen Grund habe», sagte sie und lachte erneut.
Ich benehme mich dümmer als ein Teenager
.
«Das kann ich dir versprechen.» Grinsend hob er wie ein Pfadfinder die Schwurhand. «Erdnüsse gefällig?», fragte er, schüttelte eine Dose voller Nüsse neben seinem Ohr und brachte sie damit wieder zum Lachen.
Champagner und Erdbeeren wären mir lieber, aber ich will dich trotzdem
. «Danke, bei dieser Runde setze ich aus.»
Er leerte sein Glas, stellte es auf die Kommode und nahm Susan dann ihr Glas aus der Hand. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie den Eindruck hatte, ihr ganzer Körper würde vibrieren.
«Hab ich dir schon gesagt, wie umwerfend du bist?», sagte er.
Du schamloser Lügner. Mach weiter
. «Du hast es ein bis zwei Mal erwähnt.»
«Hab ich dir auch schon gesagt, welche Gefühle ich bekomme, wenn ich dich ansehe?»
Bitte, hör auf zu reden
. «Das musst du nicht.»
«Du bist das Beste, was mir heute passiert ist.»
Okay, aber jetzt hör auf zu reden
. «Danke.»
Er nahm sie bei der Hand und zog sie an sich. Susan spürte seine Berührung bis in die Haarwurzeln. Dann beugte er sich zu ihr hinunter, küsste sie, und ihre Knie drohten nachzugeben.
In diesem Moment brachte sie ein anderer Autofahrer mit wildem Hupen zurück in
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