Wo Dein Herz Zu Hause Ist
so lang, dass man sie hätte schneiden müssen, und der Daumen der linken Hand war Richtung Handfläche gebogen, während alle anderen Finger ausgestreckt waren, sodass es aussah, als wollte sie sich die Hand beim Gähnen vor den Mund halten. Sie war ein langes, schlankes Baby gewesen, aus dem sicher eine hochgewachsene Frau geworden wäre. Als Gloria vor dreißig Jahren ihre Tochter dieses eine Mal in den Armen gehalten hatte, dachte sie, dass mit diesen schmalen Fingern sicher eine Pianistin aus ihr würde. Und wenn sie gelebt hätte, wäre sie sicher genauso sportlich geworden, wie es ihr Zwillingsbruder später wurde. Allerdings hatte sie sich dabei nicht vorgestellt, dass ihr kleines Mädchen eines Tages aus Flugzeugen springen oder vereiste Skipisten hinunterjagen würde, wie es George tat, dessen Risikobereitschaft ihr mehr als eine schlaflose Nacht bereitet hatte. Stattdessen sah sie ihre Tochter als Tennisspielerin oder Golferin oder als Meisterin irgendeines anderen Sports, der Talent erforderte, aber nicht lebensgefährlich war. An diesem Abend, als ihr die Ärzte und Schwestern ihr kleines Mädchen aus den Armen zogen, war etwas in ihr zerbrochen. Die Wunde jedoch war in langen Jahren verheilt, und auch wenn Gloria die Narben ein Leben lang tragen würde, so wusste sie doch, dass sieniemals mehr in so tiefe Verzweiflung geraten würde wie damals.
Und deshalb war Gloria die Stärkere gewesen und Duncan derjenige, der fast zusammenbrach.
Seine Kinder hassten ihn. Der Kummer darüber überwältigte ihn beinahe, und zum ersten Mal spürte er einen Zweifel in dem feinen, unsichtbaren Riss seiner Seele aufkeimen, der sich an dem Tag gebildet hatte, an dem seine Tochter gestorben war. Dreißig Jahre zuvor hatte sich seine Frau auf ihn gestützt, und nun stützte er sich auf sie.
«Du siehst doch – sie schickt dir Nachrichten aufs Handy», sagte Gloria, als seine Tochter es nicht fertigbrachte, mit ihm zu sprechen, aber auch nicht so herzlos war, seine SMS zu ignorieren. «Und um George brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen – wir wissen beide, was für einen selbstbewussten Filou wir da großgezogen haben.» Sie lächelte und drückte seine Hand, bevor sie ihn vom Bett hochzog. «Wir hatten dreißig Jahre Zeit, um uns an die Situation zu gewöhnen – da kannst du ihnen wohl dreißig Tage gönnen, oder?»
«Es wird nie mehr so sein wie früher», hatte er gemurmelt.
«Nein, Liebling, so wird es nicht mehr sein», hatte sie gesagt und ihm über die Wange gestrichen. «Aber das ist auch in Ordnung so.»
Er küsste ihre Hand. «Was würde ich bloß ohne dich anfangen, Glory?»
«Tja, Liebling, zurzeit würdest du vermutlich schrecklich abmagern und wochenlang in derselben Kleidung herumlaufen.»
Er lachte.
«Jetzt geh duschen, ich mache dir inzwischen ein richtig gutes Frühstück!» Er war noch einen Moment auf der Bettkante sitzen geblieben, doch seine Gedanken wanderten weit zurück in den Wald bei Wicklow, wo er den Mantel seines Bruders von dem Gesicht eines toten Mädchens hochgehoben hatte.
Sein Bruder stand damals neben ihm.
«Ich kenne sie», hatte er gesagt. «Und ihre Mutter kenne ich auch.»
«Wo ist das Baby?», hatte Duncan gefragt.
«Beim Dorfarzt», gab Father Ryan zurück, ohne den Blick von dem toten Mädchen zu wenden.
«Sie hat ein blaues Auge», sagte Duncan.
«Das hat nichts mit ihrem Tod zu tun.» «Hast du ihre Familie benachrichtigt?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Ich möchte, dass du mit mir zusammen zu dem Arzt kommst», sagte Father Ryan. «Und zwar jetzt gleich, bevor es zu spät ist.»
Haben wir das Richtige getan? Was haben wir getan?
Duncan hatte sich im vergangenen Monat stärker auf seine Frau verlassen, als er es je für möglich gehalten hätte. Im Haus der Ryans hatte sich das Kräftegleichgewicht verschoben.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür zu Duncans Büro öffnete sich. Es sah dort immer gleich aus. Es wirkte dämmrig und auch staubig, obwohl Mrs. Gallo jeden Dienstag auch Duncans Büro beim Hausputz saubermachte. Die deckenhohen Regale waren mit Büchern und Papierstapeln überladen, und die Regale, Bodendielenund der Schreibtisch aus dunklem Holz verliehen allem eine leicht düstere Atmosphäre. Daran konnte auch das hohe dreieckige Dachfenster nichts ändern, durch das viel Licht in eine Ecke des Zimmers fiel. In dieser Ecke stand der große, abschließbare Aktenschrank, in dem Duncan Kopien seiner sämtlichen
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