Wo Dein Herz Zu Hause Ist
Kind – vielleicht sechsundzwanzig. Und der Junge, Matthew, konnte nicht viel machen, selbst wenn er es sich zugetraut hätte. Seine Familie hätte ihn garantiert nicht unterstützt, weil sie Angst um ihren Ruf gehabt hätte. Sein Großvater war sehr einflussreich und nutzte seine Kontakte. Der Tod des Mädchens war eine Woche lang in den Schlagzeilen, aber obwohl die ganze Stadt wusste, dass Matthew der Freund dieses Mädchens gewesen war, tauchte sein Name in keiner einzigen Zeitung auf. Und, na ja, deine Großmutter war eine schwache Frau, der es noch dazu nicht gutging. Außerdem … habe ich mich auf den ersten Blick in dich verliebt. Du warst so zart und zerbrechlich und trotzdem schon eine Kämpferin. Du hast mich so grimmig, mit einem so wilden Blick angesehen, dass ich lachen musste. Es war das erste Mal seit sechs Wochen, dass ich lachte. Ich wusste plötzlich, dass du für mich bestimmt warst und ich für dich, also nahm ich dich mit nach Hause. Du warst niemals ein Ersatz, weder in Glorias noch in meinen Augen.»
Harri weinte. Ihr Taschentuch war tränennass. «Und was war mit dem Jungen?», fragte sie schluchzend.
«Der arme Kerl», sagte Duncan seufzend. Dann erzählte er ihr, wie er Matthews Aussage im Haus des Arztesaufgenommen hatte. Der Junge hatte mit Liv weglaufen wollen, sie hatten schon ausreichend Geld gespart und die Bootsfahrscheine gekauft, um zwei Wochen später aufzubrechen. Duncan erinnerte sich, dass der Junge auf diesen Umstand geradezu fixiert war. «Es waren nur noch zwei Wochen.» Das hatte Matthew ein ums andere Mal wiederholt und sich immer wieder mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen gewischt. Wegen ihrer Schwangerschaft wollten sie mit dem Schiff nach Wales fahren und dort bis nach der Geburt bleiben. Anschließend hatten sie vor, es bis in die Staaten zu schaffen. So hatten sie es jedenfalls geplant. «Es waren nur noch zwei Wochen.» Matthew hatte nicht mit Komplikationen gerechnet, denn die Geburt sollte erst einen Monat später stattfinden, und er wollte nichts davon hören, dass Babys manchmal zu früh kommen. Er hatte den Arzt nicht aus den Augen gelassen, als ob er sie mit seinen Worten zurückbringen könnte. «
Er
ist schuld», hatte er ständig wiederholt. «
Er
hat ihr etwas angetan.» Er meinte den Stiefvater des Mädchens, und der Junge hatte recht. Der Stiefvater hatte sie zwei Abende zuvor in dem Moment angegriffen, in dem Father Ryan vorbeikam. Er hatte die beiden getrennt, doch zuvor hatte der Stiefvater Liv seine Faust ins Gesicht geschlagen.
Dann erzählte der Arzt dem Jungen von dem überlebenden Baby und erklärte ihm, dass er selbst, Father Ryan und der andere nette Mann ihm helfen wollten. Zuerst war Matthew sprachlos gewesen, doch dann redete und redete und redete der Arzt, und am Ende hatte der Junge nur eine einzige Bitte.
«Was?», fragte Harri keuchend, als hätte sie gerade einen Zehn-Kilometer-Lauf hinter sich gebracht.
«Er wollte dich ein einziges Mal sehen und ein Foto machen. Eine Woche später habe ich dich kurz nach Mitternacht zum Pier von Wicklow gebracht. Wir haben uns auf eine Bank gesetzt, hinter der ein Wandgemälde das griechische Schiff
Eliana
zeigte. Er hat dich in die Arme genommen, dich geküsst und dir Geschichten von deiner Mutter ins Ohr geflüstert, und du hast die ganze Zeit geschlafen. Zwei Wochen danach war er weg. Der Tod ging als Unglücksfall in die Akten ein, und wegen Matthews einflussreicher Familie wurde seine Identität aus den Unterlagen herausgehalten.»
«Fall abgeschlossen», sagte Harri.
«Fall abgeschlossen», wiederholte Duncan.
Sie schwiegen. Duncan war erschöpft von dem aufwühlenden Ausflug in die Vergangenheit, während Harri dabei war, die neue, beunruhigende Wirklichkeit zu begreifen.
«Du hättest es ihm nicht sagen müssen», murmelte sie schließlich.
«Ich weiß.»
«Das war wirklich mutig von dir.»
«Danke.»
«Und dumm dazu. Er hätte euren ganzen Plan zunichte machen können.»
«Ich weiß.»
«Aber richtig war es trotzdem.»
«Fand ich auch.»
«Und er hat nie angerufen oder geschrieben oder sich irgendwann einmal gemeldet?»
«Nein.»
«Dad?»
«Ja, Schatz?»
«Hast du in der Akte ein paar Bilder von Liv, als sie noch lebte?»
«Ja, habe ich.»
«Kannst du mir vielleicht eins davon geben? Alles andere möchte ich nicht sehen.»
«Gute Idee», sagte er. «Ich sag dir was – du gehst runter zu deiner Mum und George, und ich suche dir ein Bild
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