Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
machst. Du hast immer mal wieder eine Stunde, in der du sie nicht alle beisammen hast.“
Ilona hatte mit diesen Worten erstmals in bis dato unbekannter Schonungslosigkeit Manfred darauf hingewiesen, dass dessen Selbsteinschätzung einer „eigentlich ja kompletten Genesung“, wie er es mehr als einmal nannte, nicht stimmt. Trotz positiv verlaufener Arztbesuche meldeten sich regelmäßig die Schmerzen, auch wenn es sich dabei möglicherweise nur um Einbildung handelte. Schwerer wog, dass er von unkontrollierten Sinneszuständen, die ein Konglomerat der verschiedensten Seelenzustände darstellten und die er krankheitsbedingt in den letzten Monaten kennen gelernt hatte, nicht immer frei war.
Und in genau so einer zugespitzten labilen Situation hatte Manfred Herrn Peer Stung, dem aktuellen Rektor des humanistischen Gymnasiums, in dem er bis vor einigen Jahren als Hausmeister gearbeitet hatte, erneut seine Bitte um eine Unterredung vorgetragen. Er war dafür in die Schule gegangen und war mitten in eine Lehrerkonferenz hineingeplatzt. Unbeholfen hatte er eine Begrüßung gestammelt, bevor er dem Schulleiter einen Brief auf den Tisch warf und wieder verschwand.
Die Antwort des Schulleiters ließ nicht lange auf sich warten. Wobei er nicht persönlich agierte, sondern über seinen Rechtsanwalt. Dessen Brief lag nun auf dem Frühstückstisch.
„Sag mal, welche Schuld quält dich da eigentlich gegenüber diesem eitlen Angsthasen?“
„Keine. Halt nur, wenn ich sie nicht alle beisammen hab‘... Für den Fall sollten wir vielleicht einen Käfig aufstellen, in den du mich einschließt.“
Ilona schien diese Möglichkeit ernsthaft zu erwägen, deutete Manfred ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck.
„Ich würde gerne wissen, was dich bei dem Schulleiter belasten kann. Über eineinhalb Jahrzehnte habt ihr zusammen gearbeitet. Hast du ihm etwa mal eine Tafel Schokolade geklaut?“
Werner stöhnte. “Ich würde mich an deiner Stelle wahrscheinlich auch nicht mehr ernst nehmen können... Der Käfig scheint mir keine schlechte Lösung. Im Ernst: Wenn ich mich mal wieder wie Dr. Seltsam fühle, passt du auf mich auf. Ich sage dir wenn möglich Bescheid, wenn mein Hirn ein Eigenleben annimmt.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
*
„Der Schulleiter ist nicht nur eitel, sondern auch hoch neurotisch.“
Sofort überlegte Ilona, ob Elisabeth der richtige Adressat für eine solche Bemerkung ist. Aber mit irgendjemandem musste sie ja darüber reden.
„In dem Brief“, fuhr Ilona fort, „hatte der Rechtsanwalt mit ernsten Konsequenzen gedroht, sollte Manfred noch einmal den Kontakt suchen.“
„Endlich mal was los in Neuenkirchburg.“
Ilona stutzte. Augenblicklich entschied sie sich zu sagen, was sie in letzter Zeit schon öfter mal gedacht hat. „Sag‘ mal Elisabeth. Seit dem Tod deines Mannes hast du dich irgendwie verändert.“
„Ich kriege seine Rente. Das Haus ist abgezahlt. Ich muss kein Gemecker mehr ertragen.“
„Schon, aber...“
„Der Mensch wird frei, wenn er sich von den Zwängen der Warengesellschaft nicht mehr verfolgt fühlen muss.“
„Elisabeth! Was für ein Satz! Das bist du nicht!“
„Keine Angst. Ist geklaut. Hat mir mein Therapeut erzählt.“
„Du machst eine Therapie? Seit wann denn das?“
„Gleich nach der Beerdigung meines Mannes ging es los.“
„Verstehe...“
„Du verstehst nicht. Ich brauche noch einen Mann.“
„Wie?“
„Wie... wie ? Ich will noch mal flach gelegt werden in meinem Leben. Und zwar von ihm. Ich sah ihn im Café, hörte von seinem Beruf als Therapeut und von seinem Faible für Frauen mit dicken Hintern und so meldete ich mich an. Jeden Montag und Freitag. Wenn schon, denn schon.“
„Elisabeth!“
„Noch zwei Monate gebe ich ihm. Dann legt er mich um. Er guckt Pornos, wie ich herausgefunden habe.“
Eine ganze Zeit war es still am Telefon. Aber dann hatte Elisabeth noch was zu sagen.
„Geh zu diesem Schulleiter. Der hat einen in der Schüssel; wenn der nächstes Jahr in Rente geht, sitzt der auch beim Therapeuten. Geht wegen so einem Scheiß zum Anwalt! Dann schreit er Manfred auf offener Straße an. Redet vor allen Lehrern schlecht über ihn.“
Ilona hörte am anderen Ende der Leitung ein Feuerzeug klicken. Ein Korken knallte. Dann war auch Elisabeths Schlürfen zu vernehmen, zeitgleich mit ihrer Stimme: „Wenn der neurotisch ist, kann es unter Anspannung noch schlimmer werden. Und dann musst du wissen, was da los war.
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