Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
deswegen war es für Ilona umso schwerer nachzuvollziehen, was Manfred da mit seiner Erpressung gemacht hatte. Denn hätte Schulleiter Peer Stung Anzeige erstattet und das Foto selbstbewusst der Polizei übergeben, dann wäre im Fall einer Aufklärung des Falls Manfred nicht ohne eine Gefängnisstrafe davon gekommen. Alles wäre öffentlich geworden. Und auch ihr eigener Ruf wäre davon nicht verschont geblieben! Wohlmöglich hätten sie wegziehen müssen.
Unter diesem zuletzt gedachten Gesichtspunkt resümierte Ilona die Erpressung noch einmal ganz neu: Das Risiko, das Manfred eingegangen war, hatte auch ihre Lebenssituation bedroht! Mehr als nur einen Moment meldete sich nun Wut bei Ilona. Was denn nun? Soll ich, fragte sich Ilona erneut, mit Manfred darüber reden oder nicht? Hierbei erinnerte sich Ilona an einen Ratgeber, den sie irgendwann mal in ihrer ersten Ehe in der Hand gehabt hatte, demzufolge es ein Kardinalfehler in einer Beziehung ist, über Probleme nicht zu reden, denn dabei könnten letztendlich Gefühle auf der Strecke bleiben. In ihrer ersten Ehe, bei Werner, hatte Ilona beschlossen zu schweigen. Aber Werner hatte sie ja auch überhaupt nicht geliebt!
Augenblicklich war Ilona gespannt, wie sie sich diesmal verhalten würde. Nur zu gern wäre sie sich darüber im Klaren gewesen! Aber das wollte ihr, so sehr sie sich auch anstrengte, nicht gelingen. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, ob sie Manfred zur Rede stellen sollte. Ilona seufzte tief; sie wusste, dass sie somit ihre innere Unruhe akzeptieren musste, denn ohne Entscheidung bei wichtigen Fragen kommt man nicht zur Ruhe.
*
„Vielleicht bin ich ja wegen des ganzen Mists, den ich in meinem Leben so gemacht habe, krank geworden.“
„Sag mal“, widersprach Ilona, „worüber haben wir uns eigentlich kundig gemacht... Man kann heute mit Sicherheit ausschließen, dass Krebs aufgrund ungelöster Lebensprobleme oder vermeintlicher Fehler entsteht.“
„Ich habe gelesen...“
„Scharlatanerie, Manfred. Nichts anderes! Auch der esoterische Mist mit der Krebspersönlichkeit ist wissenschaftlich unhaltbar. Gene und Lebensstilrisiken sind die bessere Begründung. Wenn es denn überhaupt eine Begründung gibt.“
Wieder mal hatte sich das Frühstück bis in die Mittagsstunden hingezogen. Und es war Zeit endlich über Manfreds letzten Traum zu sprechen.
„Titanic, Folge 17?“, fragte Ilona und rollte dabei unfreiwillig mit den Augen. Es gelang ihr nicht, empathisch zu sein; sie konnte es oft einfach nicht mehr hören, die Sache mit Manfreds schlechten Gewissen.
„Falsch. Ich bin im Traum vor Neugier gestorben... Es soll übrigens in Ordnung sein, wenn man Aggressionen gegenüber einem Menschen spürt, der einen tagaus, tagein stark beansprucht. Selbst wenn es der eigene Partner ist.“
„Ich bin nicht aggre...“
„Doch das bist du. Und das war eben nicht das erste Mal. Wir sollten uns endlich eine Pflegekraft holen. Das wird ja nicht besser, bis ich sterbe.“
Manfred stand auf und ging in die Küche, ohne dass Ilona etwas sagte. Er stützte sich mit beiden Händen am Rand des Tisches ab und schaute durch das wandgroße Fenster in den Garten. Links sah er den Rücken von Ilona, die weiterhin im Gartenstuhl auf der Terrasse saß.
Der Krebskranke gewinnt Kraft, wenn er merkt, wie wichtig er für den Lebenspartner ist, erinnerte sich Manfred an einen für ihn mal hilfreichen Satz. Und wenn der Kranke merkt, dass er für den Partner oft zur Belastung wird, heißt das dann im Umkehrschluss, dass der Kranke an Kraft verliert? Manfred wollte das überhaupt nicht ausschließen, als er spürte, dass er ohne sein Abstützen an der Tischkante nicht allzu lange würde stehen bleiben können, eine Schwäche, die er eher auf Ilonas Ungeduld als auf seinen sich in letzter Zeit wieder verschlechternden Gesundheitszustand zurückführen wollte. Ich werde mehr und mehr ein kleines Kind und brauche ständig liebevolle Zuwendung, um gut durch den Tag zu kommen, reflektierte Manfred. Aber das kann nicht mein Anspruch sein! Wenn der Mensch denn tatsächlich eine Würde hat, dann ist es Teil meiner Würde, über die Beobachtung des zunehmenden körperlichen Zerfalls nicht immer ängstlicher, angreifbarer, hilfloser, unbeholfener und selbstmitleidiger zu werden. Meine Würde muss mich auch noch anders erleben können. Meine Lebenskraft darf sich nicht im Leiden erschöpfen.
Gar nicht so einfach, eine solche Vorgabe umzusetzen, wenn man sich
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