Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
anderen Eindruck verlassen und ging der Geschichte, wonach Manfred den Rektor erpresst haben soll, nach.
Ihre Überlegungen zielten auf Conny, denn wenn Manfred den Schulleiter bei dessen monatlichen Wochenendausflügen in Frankfurt ausspioniert haben sollte, dann wird er möglicherweise öfter bei ihr übernachtet haben. Im Moment konnte sich Ilona nur daran erinnern, dass Manfred gerade in den Jahren, nachdem sie nach Neuenkirchburg zurückgezogen waren und er ohne regelmäßige Arbeit war, sich öfter außer Hauses rumtrieb. Soweit sie wusste, hatte er sich viel in Bibliotheken aufgehalten und war ein fleißiger Besucher von Ausstellungen aller Art.
Kurzerhand entschloss sich Ilona, Conny anzurufen. Den Begrüßungssätzen folgte das hörbare Inhalieren einer Zigarette.
„Du rauchst?“ Conny schien irritiert. „Seit wann das denn?“
„Seit ich durch die Krankheit von Manfred einmal mehr weiß, dass ich nur einmal lebe und das nicht ewig.“
„Macht dir das zu schaffen?“
„Was meinst du jetzt? Manfred, seine Krankheit, meine Zigaretten oder meine Endlichkeit? Ich glaube im Moment eher alles ein bisschen als alles gar nichts.“
„Du hörst dich ungeduldig an...“
„Nimm es nicht persönlich, mir geht es nicht gut... Beantworte mir einfach eine Frage. Wie oft hat Manfred dich in den bald 30 Jahren, die ihr nicht mehr zusammen wohnt, in Frankfurt besucht?“
Conny wollte gerade nach dem Grund für Ilonas Interesse fragen, da überlegte sie es sich anders. „Huch, alte Frau kein Intercity-Express, lass mich nachdenken. Zuletzt...“
„Vor Kurzem, ich weiß. Manfreds Beichttour.“
Ihr geht es tatsächlich nicht gut, deutete Conny die Unterbrechung. „Also, er kommt schon regelmäßig. Wenn man das bei einmal im Jahr sagen kann.“
Ilona sagte nichts. Sie wollte Connys Nachdenken noch nicht für beendet halten.
„Zu Anfang kam er vielleicht jedes Quartal mal... und irgendwann war er dann auch noch mal öfter da. Da ging er viel alleine weg, er schwelgte da in alten Erinnerungen, sagte er.“
„Wann?“
„Wann er weg ging? Meist abends.“
„Nein, wann das war, als er dich öfter besuchen kam.“
„Du stellst Fragen... Moment mal, das muss vor über 20 Jahren gewesen sein. Ich weiß noch wie ich einmal, als gerade die Mauer geöffnet wurde, gebannt vor dem Fernseher saß und es kaum glauben konnte, dass ihn das gar nicht interessiert und er einfach rausging.“
1989, das kommt ja vollends hin, dachte Conny. „Ich sage jetzt einfach Tschüs und du fragst nicht nach, ja?“
Conny wollte gerade nachfragen, als sie schon das Knacken in der Leitung vernahm.
*
Ilona führte ihren inneren Dialog so heftig, dass sie sich zuweilen umschaute, ob ihr jemand zuhörte.
Sollte sie Manfred zur Rede stellen oder nicht? Wenn ja, worum ging es ihr dabei? Wollte sie lediglich die Indizien, die sie eigentlich für eindeutig hielt, durch seine Bestätigung abgesichert wissen, oder wollte sie darüber hinaus mit einer Vielzahl von Warum und Weswegen-Fragen unbekannte Seiten von Manfreds Charakter auskundschaften? Wie rechtfertigte Manfred seine schamlose Erpressung? Wobei Ilona sich in dem Wissen um Manfreds vielfältige Schuldgefühle die Frage sogleich selbst beantworten konnte. Er wird seine über zwanzig Jahre zurückliegende Drohung gegenüber dem Schulleiter Peer Stung kaum als eine Jugendsünde abtun können, denn zur Zeit der Erpressung stand er ja bereits ganz am Ende seines fünften Lebensjahrzehnts. Warum war Manfred überhaupt wegen einer Hausmeisterstelle, die ja weit unter seinen verbrieften Qualifikationen lag und auch nicht besonders gut bezahlt war, ein so hohes Risiko eingegangen? Irgendwelchen Druck zur Aufnahme einer Arbeit hatte sie nicht ausgeübt, erinnerte sich Ilona. Ganz im Gegenteil, sie hatte es gut gefunden, und so hatte sie es ihm damals auch immer wieder gesagt, dass er sich nur gelegentlich zur Verbesserung der gemeinsamen Haushaltslage verdingte und ansonsten mit seinen Selbststudien Sinnvolles aus seinen vielen freien Wochen machte. Ilona war froh, einen klugen und wissbegierigen Mann zu haben; Geldhascherei als Selbstzweck hätte sie nach den entsprechenden Erfahrungen mit Werner kaum ertragen können. Alles war in Ordnung, sie war glücklich mit Manfred. Ihr gemeinsamer Abstand gegenüber der kriselnden Arbeitsgesellschaft schweißte sie fest zusammen und war ein über weite Strecken bewusst gelebter Teil ihrer gemeinsamen Einstellungen. Und gerade
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