Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
anschaut, was die Zersetzungskräfte in meinem Körper denn in letzter Zeit so alles angerichtet haben und wenn man weiß, was sie in nächster oder übernächster Zukunft noch so alles mit mir anrichten werden. Eine Nachsorge hatte Metastasen in der Leber ergeben. Über die Blutgefäße hatte sich der Krebs frühzeitig nach oben getankt. „Fast noch Mikrometastasen. Und übrigens ist der Ursprungstumor im Darm ganz weg“, hatte ihm der Arzt betont optimistisch mitgeteilt, eine Äußerung, die Manfred als nett gemeinte Beruhigungspille verstand, wusste er doch, dass eine Darmkrebserkrankung mit Metastasen immer ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium bedeutet und schwer zu behandeln ist. Zu Manfreds Erleichterung kam er auch diesmal an einer Chemotherapie vorbei, denn die überschaubare Ausbreitung der Metastasen empfahl eine weitere Operation als geeignete Behandlungsmethode. Nach erfolgreicher OP wollte sich Manfred gerade noch einmal darüber freuen, den extremen körperlichen Entstellungen einer Chemotherapie entkommen zu sein, da sorgte die zwar freundlich gemeinte, aber in ihrer Wirkung eindeutig ungeschickte Äußerung eines Arztes für Manfreds nachhaltige Ernüchterung: „Herr Semmler, das war eine Bilderbuch-OP“, freute sich der Mediziner, wobei er hinzufügte: „Bei 20 Prozent der Patienten treten anschließend über einen längeren Zeitraum keine Metastasen mehr auf.“ Trotz spürbaren Schwächegefühls beherrschte Manfred noch die Grundformen der Mathematik und kombinierte messerscharf: „Somit treten bei 80 Prozent der Patienten bald nach der OP erneute Metastasen auf? Ich bin beruhigt, Herr Doktor.“
Manfred musste seine einstmals erforschte Prognose über seine noch zur Verfügung stehende Lebenszeit deutlich nach unten korrigieren. Dabei wollte er es so ganz genau gar nicht mehr wissen. Nach kurzer Internetrecherche sagte er zu Ilona nur: „120 wirst du ohne mich.“
Die Abnahme der körperlichen Kraft war nun die auffälligste Wirkung, mit der Manfred nach seiner dritten OP zu kämpfen hatte. Recht oft musste er sich zuweilen bei den täglichen Notwendigkeiten von Ilona unterstützen lassen; es war ihm nicht mehr selbstverständlich, den Körper in allen Wachzeiten stets so bewegen zu können, wie es erforderlich ist, wenn man sich nicht vernachlässigen will. Er konnte die Hilfe eigentlich nur deswegen ohne innere Gegenwehr annehmen, weil er davon ausgehen wollte, dass er wieder kräftiger wird. Dass das eine Illusion ist, hielt er zwar für gut möglich, aber das machte ihn nicht permanent lebensunwillig. Religion ist schließlich auch eine Illusion, fiel ihm dazu ein, und trotzdem wird sie betrieben.
Sein Seelenapparat wartete mit keinen neuen Bedrohungen auf, ließ ihn aber auch nicht mit den ihm hinlänglich bekannten Ängsten in Ruhe. Nach der Entdeckung der Metastasen verkürzten sich wieder die Zeiträume, in welchen er aus gutem Grund hätte behaupten können, halbwegs frei im Kopf zu sein. Immer wieder meldeten sich diese Titanic-Träume, ohne dass sie ihm wirklich etwas Neues erzählen konnten und ohne dass sie noch einen Einfluss auf seine Befindlichkeiten hatten; in der Regel erarbeiteten seine Synapsen nur eine Vermischung der bisherigen Geschichten und nur selten wachte er schweißgebadet auf. An ein „Halts‘ Maul, Werner“ oder ungewollte Aufschreie ähnlichen Inhalts konnte sich Manfred in diesem Moment, als er in der Küche aus dem Fenster in den Garten und ab und zu auf Ilonas Rücken schaute, jedenfalls nicht erinnern. Aber dass deshalb die Seele halbwegs unter der Kontrolle seines Geistes fungierte, kann man auch nicht einfach sagen, resümierte Manfred.
Zwar hätte er noch vor einem Tag seine seelischen Regungen als eine Art Nachhutgefecht bezeichnet, aber nun, nach der letzten Nacht, ging das nicht mehr. „Titanic, Folge 17?“, hatte ihn Ilona soeben gefragt. Sarkastisch nennt man das wohl, wie sie das ausgesprochen hatte, dachte Manfred. Nein, mit Schiffe versenken oder so hatte das nichts zu tun gehabt, was er geträumt hatte. Augenblicklich merkte Manfred, dass er mit Ilona über den Traum definitiv reden muss. Denn der Traum bedeutete eine erhebliche Änderung für sein Leben, beziehungsweise das, was davon noch üblich blieb. „Auf die Terrasse“, forderte Manfred sich unverzüglich auf und mit ungeahnter Energie saß er nur einige Sekunden später wieder genau dort, neben seiner Frau.
„Ich will mich nochmal von Herzen freuen.“
„Auf jeden
Weitere Kostenlose Bücher