Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
an einer Schule in der Nazi-Zeit so gewesen sein könnte.“
„Das ist nicht ungut“, hörte man den Professor sagen, dem die lautstarke Kritik aus dem Publikum überhaupt nicht gefallen hatte. Unsolidarisch und gehässig sind die gern, dachte der Professor und meinte die Studierenden vom SDS.
„Ich werde jetzt sagen“, sprach Manfred weiter, „was uns richtig an die Nieren gegangen ist. Wir haben uns das lange überlegt so vorzugehen, weil das vielleicht nicht ein besonders wissenschaftlicher Stil ist...“
„Ich unterbreche Sie nur ungern, Herr Semmler. Da Sie uns über Ihre Vorgehensweise im Vorherein aufklären, verhalten Sie sich wissenschaftlich integer. Und der Stil ist Ihre Sache – jetzt bin ich aber ruhig, bitte weitermachen“, sagte der Professor und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Also gut... Was ging uns unter die Haut? Dafür möchten wir aus einer Aufgabe in einer Mathematik-Klausur von 1936 vorlesen, die wir im Schularchiv gefunden haben.“
Mitten in Manfreds letztem Satz war Ilona aufgestanden und hing eine vorbereitete Wandzeitung auf. Dort konnte man lesen:
Der Bau einer Irrenanstalt erfordert 6 Millionen Reichsmark. Wie viel Häuser zu je 15.000 Reichsmark hätte man davon bauen können?
Nach einigen Sekunden setzte Gemurmel ein. „Je länger man den Satz fließen lässt, desto fieser wird er“, sagte Manfred.
Der schon vorhin aktive Student aus der ersten Reihe meldete sich, wobei er im selben Moment zu sprechen begann. „Das ist natürlich heftig. Die Nazis haben damit die Schüler zu den Gedanken locken wollen, dass man mit Verrückten, oder wen man dafür hielt, anders umgehen soll als für sie viel Geld auszugeben. Mit so etwas haben sie die Euthanasie vorbereitet.“ Der Redner fuhr mit einem Blick in den Raum fort: „Aber wir waren uns doch schon in der ersten Sitzung darüber einig geworden, dass wir uns insbesondere dafür interessieren, wer von den ehemaligen Nazi-Größen heute in der BRD unbescholten lebt…“
Ilona übernahm das Wort. „Der Verfasser der Rechenaufgabe ist ein gewisser R. König, derselbe König, der bis kurzem Hochschullehrer war und das Bundesverdienstkreuz bekommen hat.“
Raunen im Saal.
„Diskutieren können wir später. Wir möchten unser Referat erst zu Ende machen.“ Ilona hatte laut und deutlich gesprochen. Auf die Schnelle flüsterte sie Manfred ins Ohr: „Ich habe keine Lust mehr, Angst zu haben.“ Die beiden grinsten, bevor sie im Duett weitere Beispiele folgen ließen. So berichteten sie davon, dass Schüler jüdischer Abstammung immer seltener in die Oberschule aufgenommen worden waren, schon bald war damit ganz Schluss. Die letzten jüdischen Schüler mussten im Spießrutenlauf durch eine HJ-Einheit den Schulhof verlassen. Dabei zeigte ein im Schularchiv gefundenes Foto einen jüdischen Schüler mit einem Pappschild um die Brust, auf welchem stand: „Ich bin ein Verderben.“
Über ein Dutzend Mal änderte die Schulbehörde eigenmächtig mit dem Alten Testament in Verbindung stehende Vornamen, wenn es sich um arische Schüler handelte. 1937 wollte sich ein Mädchen nicht damit abfinden, ihren Namen Ester aufzugeben, um stattdessen auf den Namen Marianne zu hören. Als der Vater sich weigerte, seine Tochter zur Räson zu bringen, wurde er von der Polizei abgeholt, seine Tochter der Schule verwiesen. Im Protokoll der Lehrerkonferenz hieß es: „Mit ihrer Verweigerung und der Schutzhaft ihres Vaters ist Marianne Stellmann für die Schule nicht mehr tragbar.“
Ilona hob das Protokoll hoch und fragte: „Seht ihr den handschriftlichen Eintrag hier?“ Ilona zeigte mit dem Finger auf die entsprechende Stelle, sogleich las sie die Notiz vor: „Der Vater kommt nicht wieder. Gut so, weg damit. Für Immer.“ Ilona wartete das erneute Raunen ab, dann wiederholte sie den Satz, bevor sie weitersprach: „Wir wissen natürlich nicht, wer das an den Rand des Protokolls geschrieben hat. Aber es muss wohl irgendein Lehrer oder die Schulleitung gewesen sein oder jemand anders, der Zugang zu den Protokollen hat. Ob derjenige noch lebt?“
„Oder diejenige!“, rief ein bärtiger Student aus dem Raum.
„Klar, wir wollen ja immer schön gleichberechtigt bleiben… oder eben diejenige“, fügte Ilona hinzu.
„Sie durften das Protokoll kopieren?“, fragte der Professor.
„Das haben wir besser nicht gefragt“, antwortete Ilona. Mit ernster Stimme und Schalk in den Augen fügte sie hinzu: „Es ist das Original… Das
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