Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
las er das zweite Kapitel, denn das hatte er schließlich erst so um die zehnmal gelesen.
„Das muss sich um die Arbeit handeln über die du und Conny seit Wochen immer reden.“ Aaron stellte Putzeimer und Feudel in den Beistellschrank neben der Theke. Alles hatte seine Ordnung bei ihm.
„Ja, das war wohl nicht zu überhören gewesen.“
„Lies' mal was vor.“
„Aaron, ich will niemanden…“
„Ehrt dich, Manfred, ehrt dich. Aber ich würde dich nicht fragen, wenn es mich nicht interessiert.“
Manfred rutschte auf dem Barhocker nach vorn. Seine Hände sprachen mit als er begann: „Also gut. Du musst wissen, Aaron, dass ich kein Profi bin, ich studiere ja nicht wirklich, ich hab‘ ja nicht mal Abi, Aaron, nur Hauptschule. Und so ist die Sprache bestimmt nicht so, wie sie sein müsste. Ist wohl eher alles unbeholfen, wenn vielleicht auch…“
„Es ist mir völlig egal, wie jemand etwas sagt oder schreibt, mich interessiert nur das was.“
Toller Satz, dachte Manfred. Wenn ich älter bin, ist es vielleicht genau umgekehrt, dann kommt es nur noch darauf an, wie sich jemand gibt. Wie komme ich bloß darauf, fragte sich Manfred.
„Einfach anfangen, Manfred.“ Aaron steckte sich eine Zigarette ein, als zwei Männer mit einem Fußballschal um den Hals durchs Fenster schauten. Aaron winkte ab, ging zur Tür und schloss sie ab.
„Keine weiteren Einführungen, Manfred, einfach loslegen“, sagte er auf dem Rückweg.
Manfred schlug die vorletzte Seite auf. Dann fing er an.
Schluss
Auch wenn angesichts der allgemeinen Entwicklungen im Nationalsozialismus ein Großteil der von uns erarbeiteten Fakten über die Geschichte des humanistischen Gymnasiums von Neuenkirchburg nicht überraschen, so besitzen sie einen Wert für die Erforschung dieser Zeit. Im Zuge der von der aktuellen Studenten- und Jugendbewegung eingeforderten Aufarbeitung des Faschismus wird sich möglicherweise auch ein detailliertes Interesse daran ergeben, wie sich das Schulwesen in den Jahren zwischen 1933 und 1945 verändert hat. Hierbei können unsere Ergebnisse über die Lehrpläne, die Lehrerausbildung und die Rolle der nationalsozialistischen Jugendverbände ganz bestimmt einen Orientierungspunkt für andere, größer angelegte Untersuchungen setzen.
Von den Ergebnissen unserer Untersuchung sind drei Punkte nicht nur unter der Fragestellung nach den Neuerungen im Schulwesen interessant, sondern haben darüber hinaus auch eine lokalhistorische, vielleicht sogar aktuelle Bedeutung:
1. Der vorletztes Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Rudolf König ist der Autor eines 1936 herausgegebenen Schulbuches für den Mathematikunterricht, in welchem in einer Rechenaufgabe das menschenverachtende nationalsozialistische Menschenbild propagiert wird (vergleiche unser Kapitel 3.1: Irrenanstalt und Reihenhäuser). Finden sich in dem Schulbuch weitere Aussagen dieser Art?
„'Irrenanstalt und Reihenhäuser' ist gut“, unterbrach Aaron. “Sehr gut sogar. Ist das ein Zitat von Adorno?“
„Weiß ich nicht“, antwortete Manfred knapp. Er wollte weiter lesen.
2. Jemand, der Zugang zu den Protokollen der Lehrerkonferenzen hatte, unterstützte mit einer handschriftlich angefertigten Notiz in schrecklichen Worten den Abtransport eines Vaters ins KZ (vergleiche unser Kapitel 3.2: Freude über KZ-Einlieferung). Sofern derjenige, der das geschrieben hat, noch lebt, stellt sich die Frage: Ist diese Notiz strafrechtlich relevant oder handelt es sich lediglich um eine private Äußerung?
3. Schulisches Personal stand zumindest einmal in Kontakt mit der Gestapo, die am Ende des Krieges in die hinteren Kellerräume der Schule einzog (vergleiche unser Kapitel 3.3: Keller-Gestapo). Es bleibt undurchsichtig, was die Schule genau dazu bewog, die Gestapo bei deren Arbeit um Rücksichtnahme auf die Öffnungszeiten der Schule zu bewegen. Gesichert ist lediglich, dass die Gestapo sogenannte "Volksfeinde" in die Kellerräume an- und abtransportierte. Was war dort los?
Manfred trank sein Glas Bier in einem Zug aus. „Tja, so habe ich das gemacht... die Studentin, mit der ich zusammengearbeitet habe, hat dann alles noch mal durchgesehen... Ich hoffe, das reicht, damit der Professor ihr die Bescheinigung für eine erfolgreiche Teilnahme an der Lehrveranstaltung gibt...“
„Darf ich?“ Aaron zeigte auf die Hausarbeit.
„Klar.“
Aaron blätterte durch die Seiten. Er las mal hier, mal dort einen Absatz. Dann zapfte er ein Bier.
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