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Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Titel: Wo der Tod begraben liegt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Gohlke
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lese sehr genau heraus, ob sich jemand Gedanken macht.“ Der Professor machte eine Pause, bevor er weitersprach: „Und Sie haben sich so einige Gedanken gemacht, Herr Semmler.“
    Zu seiner eigenen Überraschung sagte Manfred: „Ich studiere nicht, ich bin nur so an der Uni.“
    Draußen klopfte es an der Tür. „Nein“, rief der Professor schroff. Er drehte sich auf seinem Stuhl hin und her, setzte mehrmals zum Sprechen an, bevor er schließlich sagte: „Na ja, dann haben Sie einen gut bei mir. Wenn Sie sich mal zu einem Studium entscheiden sollten, dürfen Sie gern wieder in meine Veranstaltung kommen.“
    „Manfred kann nicht studieren, er hat nur Hauptschule.“ Ilona hatte die beiden Männer genau beobachtet und wusste, was sie sagte. Sie konnte sich Manfreds Blick denken, als der sie anguckte.
    Der Professor stand auf, öffnete die Tür und sagte dem wartenden Studenten, dass er heute leider keine Zeit mehr für ihn findet. Wieder auf seinem Platz zurück, stellte er den Aschenbecher zwischen sich und seinen Besuchern auf den Boden. „Drehen Sie mir bitte eine mit“, sagte er mit Blick auf den Tabakbeutel, der aus dem Couvert von Manfreds Jeansjacke schaute.
    „Warum machen Sie sich die Arbeit hier an der Uni? Erzählen Sie von sich, Herr Semmler.“
    Und das tat Manfred im Folgenden dann auch. Zuerst schüchtern, wenig geordnet und schon nach einigen Sätzen seine Ausführungen beendend. Es bedurfte einer ganzen Reihe von Nachfragen des Professors, bis Manfred davon überzeugt war, dass der Professor nicht lediglich von einer pädagogisch motivierten Neugier angetrieben war; in einer persönlichen Art und Weise verspürte er wenig Lust, ein Gespräch mit einem Menschen zu führen, der ihm bei aller Sympathie weitgehend unbekannt war.
    D ie sachliche wie genaue Art des Fragens des Professors machte es Manfred möglich, bald immer selbstverständlicher von sich zu erzählen. Berührte er dabei, was für eine nachvollziehbare Darlegung seiner Entwicklung zuweilen unumgänglich war, sein Seelenleben, geschah das in einer Atmosphäre der Abgeklärtheit und nicht einer therapeutischen Offenbarung; beide Seiten wussten anscheinend sehr gut, wie außerordentlich hilfreich, ja geradezu erkenntnisfördernd der natürliche Umgang mit dem eigenen Seelenelend sein kann. Sogar mehr als das, ihnen war bewusst, dass der Verzicht darauf nicht einmal die halbe Wahrheit offen legen kann. Und dass es bitteschön zumindest um diese halbe Wahrheit gehen soll, davon gingen Manfred und der Professor unausgesprochen und einvernehmlich aus; Zeit mit überflüssigen Gerede wird auf der Welt schließlich schon genug verschenkt, wussten sie. Mit der halben Wahrheit konnten sie andererseits schon ganz gut leben, denn an eine ganze Wahrheit glaubten sie nicht.
    So kam es zu einem Gespräch von solcher Tiefe, dass Ilona den Austausch der beiden Männer mit staunenden Gesicht verfolgte. Irgendwann unterbrach sie das Gespräch.
    „Ich drehe nochmal drei Zigaretten.“
    „Für mich bitte auch“, sagte der Professor.
    „Ebenso“, legte Manfred nach.
    Das folgende Kichern entspannte die Atmosphäre weiter. Mit der Zeit wurde der Professor schlau aus Manfreds Beweggründen, den eigentlich vorgezeichneten Weg seiner Biographie zu verlassen, den Sinn der eigenen Existenz nicht, wie es allgemein üblich war, in der Schaffung eines möglichst hohen materiellen Wohlstands zu sehen, sondern in der Klärung der Frage, wie er sich in einem Land, das am liebsten nichts mit der eigenen Vergangenheit in den Jahren zwischen 1933 und 1945 zu tun haben will, einordnen oder auch nicht einordnen will. Dass solche Beweggründe zum Besuch einer Universität führen können, verwunderte den Professor nicht, auch nicht, dass man sich dafür nicht als ordentlicher Student eintrug – da war Manfred zur Zeit weiß Gott nicht der einzige. Außerordentlich bemerkenswert fand der Professor es hingegen, dass jemand mit einer lediglich neunjährigen Schulbildung diesen Schritt wagte. Und dass derjenige dann auch noch sehr gut mit den Anforderungen umgehen konnte, die an einen Studenten gestellt wurden.
    „Warum haben Sie keine höhere Schule besucht?“
    Es entspricht nicht der Würde dieses Gesprächs, jetzt ein großes Problem aus meinem Problem zu machen, fand Manfred nach nur kurzer Überlegung. Ilona bestärkte ihn in diesem Gedanken, sie zeigte Manfred den erhobenen rechten Daumen und guckte betont freundlich, ganz so, wie es der Professor bei ihr

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