Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
1945 im Bombenhagel gestorben.“ Die Information stimmte, auch wenn sie seine eigentlichen Beweggründe nicht verrieten. Manfred hielt es nicht für klug, auf Wegemanns Stillschweigen über die NS-Zeit in dessen Rede zur Abi-Feier von 1958 hinzuweisen.
„Verstehe... wissen Sie, das ist eine gute Sache, dass Sie sich damit auseinandersetzen. Ich hatte nach der schrecklichen Zeit nicht die Kraft dazu...Wenn ich jetzt etwas helfen kann...“
„Danke, Herr Wegemann... Keller-Gestapo war unser Stichwort.“
„Das Protokoll der Lehrerkonferenz, das sie gelesen haben, lügt nicht. Es war nicht schwer zu vermuten, was in den Kellerräumen geschah, auch wenn wir es nie aussprachen. Es geschah nicht oft, aber wenn, dann war das Geschrei so durchdringend, dass es unter die Haut ging. Irgendwann hielt ich das nicht mehr aus, ging zum Gestapo-Dienststellenleiter und sagte forsch, dass der Schulbetrieb gestört ist und ich es für besser halten würde, wenn die Staatspolizei aus dem Keller wieder ausziehen würde.“ Adolf Wegemann nahm ein Schluck Wasser.
„Ihrem Vorschlag wurde nicht entsprochen...“
„Ich musste meine Haut retten. Der Leiter, ein junger Spund, machte mich runter:
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Vielleicht sollten wir für Ihre sensiblen Oberschüler ein Dampfbad bauen, damit sie sich besser auf Shakespeare konzentrieren können... Haben Sie noch einen Wunsch? ... Wenn Sie so viel Zeit haben hier runterzukommen, dann können Sie doch sicher beim Volkssturm helfen.
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Die ganze Zeit trommelte er mit solchen Sätzen auf mich ein. Ich kriegte es mit der Angst zu tun, vor allem als er sich noch bei meinem damaligen Vorgesetzten, dem Schulleiter Paul Seligen – auch ein hundertfünfzigprozentiger Nazi und mit dem Gestapo-Chef befreundet – beschwerte. Den Brief, den ich dann von Paul Seligen bekam, habe ich noch.“
„Was ist aus dem Gestapo-Typen geworden?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er Klaus Wilkens hieß und ich eine Entschuldigung an ihn schreiben musste. Ein Bengel von Anfang Zwanzig, mit den Nerven am Ende, der sich daran hochzog, dass ihm ein 44-jähriger Gymnasiallehrer unterwürfig gegenübertreten musste.“
„Haben Sie den nie wieder getroffen nach dem Krieg?“, fragte Manfred.
„Das hätte der nicht überlebt...Noch nicht mal 60 dürfte der heute sein, eigentlich müsste er noch leben.“
„Wenn er nicht gestorben ist, gibt es dazu jedenfalls wenig Alternativen.“
Wieder lachte jemand im Zimmer. Manfred schaute zu den anderen Betten. Wer konnte, der hörte mit, selbst wenn die Augen geschlossen waren.
„Sie müssen richtig was investieren, wenn sie was über die Keller-Gestapo rauskriegen wollen...“
„Das muss man in einer Diplomarbeit immer. Und ich könnte mich auch ausschließlich um diesen Punkt bemühen und alles andere weglassen. Die Freiheit habe ich.“
„Herr...“
„Semmler.“
„Herr Semmler. Machen Sie das!“ Der alte Mann zeigte sich jetzt einmal mehr mit unerwarteter Energie, mit stechenden Augen sagte er: „Kümmern Sie sich darum. Statt viele Bücher für ihre Diplomarbeit zu lesen, kümmern Sie sich darum und schreiben Sie das auf... zwei Sachen, die ich habe, müssten Ihnen dabei helfen.“
*
Die eine Sache war der Brief, den der ehemalige Schulleiter und überzeugte Nationalsozialist Paul Seligen an seinen Lehrer Adolf Wegemann im Januar 1945 geschrieben hatte. Das Schreiben lag im vorgesehenen Nachlass von Adolf Wegemann, der von dessen ehemaliger Haushaltsgehilfin verwaltet wurde. Manfred wurde blass beim Lesen. Nicht etwa, weil der Inhalt ihn sonderlich überraschte. Diesbezüglich gestaltete sich der Brief ganz so, wie es die Äußerungen von Adolf Wegemann nahe gelegt hatten: Lehrer Wegemann war von seinem Schulleiter Paul Seligen ultimativ aufgefordert worden, sich beim Gestapo-Chef Klaus Wilkens in aller Form und schriftlich zu entschuldigen. Ansonsten könne er keine Konsequenzen ausschließen.
Was Manfred so bleich gemacht hatte, war die Handschrift, mit der die Nachricht namentlich unterschrieben worden war – es war die gleiche, mit der 1937 der Abtransport des Vaters, der den jüdischen Vornamen seiner Tochter verteidigte, kommentiert wurde. „Der Vater kommt nicht wieder. Gut so, weg damit. Für immer“, hatte es da geheißen, wie sich Manfred sofort erinnern konnte, zu oft hatte er den Satz gelesen. Der Schulleiter Paul Seligen selbst hatte also den Eintrag verfasst. Das ist also aufgeklärt, dachte Manfred, auch wenn er keine Antwort
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