Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Tagesordnung.
Manfred bekam Kopfschmerzen, nachdem er eine Vielzahl von wissenschaftlichen Aufsätzen über die Architektur dieser Sicherheitspolizei gelesen hatte. Welche Organisation machte genau was; was waren das für Männer und Frauen, die dort arbeiteten; wie alt waren die Mitarbeiter; welche Bedeutung hatten die Exzess-Taten in den einzelnen Organisationen; wann ist jemand wirklich als Täter einzuschätzen, wann eher als Mitläufer; wie verhielt sich die Bevölkerung gegenüber der Sicherheitspolizei; was veränderte sich in den Polizeiapparaten im Laufe der zwölfjährigen Nazi-Herrschaft und eine Menge andere Fragen wollte von den Wissenschaftlern gestellt und beantwortetet und dann nach Möglichkeit auch in die Geschichte des Nationalsozialismus, manchmal auch gleich der ganzen deutschen Geschichte, eingeordnet werden. Irgendwann erinnerte sich Manfred an die Worte von Adolf Wegemann, dass er nicht so viel lesen, sondern seine Kraft auf die Tätigkeit der Keller-Gestapo konzentrieren soll.
Aber einen halbwegs gut sortierten Überblick und ein eigenes Verständnis zur Gestapo muss ich schon haben, bevor ich mich in Archiven auf die Suche begebe, geschweige denn nach Klausen brause, überlegte Manfred. Und nachdem er einige Tage seine Lektüre ausschließlich auf die Entwicklung der Gestapo konzentriert hatte, schrieb er das Wichtigste auf, was er herausgefunden hatte. Zum Schluss erstellte er einen Spickzettel, den er immer bei sich trug, um sich im Bedarfsfall schnell an alles, was er so gelesen hatte, erinnern zu können:
GESTAPO - zuständig für die Bekämpfung der politischen Gegner - gegliedert in Dienststellen und Außendienststellen - acht Dezernate überwachten je eine politische Bewegung; im Krieg kam die Überwachung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und die Verfolgung der Juden dazu - wachsende Mitarbeiterzahl, Ende des Krieges über 30.000; die Führungselite rekrutierte sich überwiegend aus bürgerlichen Kreisen; zunehmende personelle Überschneidungen mit der SS - bestraften ohne Gericht: von Wirtshausverboten über Einlieferung ins KZ bis zu Exekutionen - Informationen wurden über Folter erzwungen, in steigendem Maße stützte man sich auf Spitzel und auf Denunzianten aus der Bevölkerung - schleichende und stille Integration von ehemaligen Gestapo-Leuten in die Polizei- und Justizapparate der BRD in den fünfziger Jahren.
Schweinebande, dachte Manfred, nachdem er seinen Spickzettel nochmal nachgelesen hatte, wobei er es ablehnte darüber nachzudenken, ob er damit gleich auch das Polizei- und Richterwesen der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren meinte.
Welche Aufgabe hatte genau die Keller-Gestapo meiner unsäglichen Heimatstadt, war die nächste Frage, die Manfred geklärt wissen wollte. In den Büchern und Aufsätzen hatte er selbst in Fußnoten keinerlei Hinweise über eine Gestapo-Einheit in Neuenkirchburg gefunden; ein kommentierter Bild- und Quellenband mit dem Titel "Neuenkirchburg 1944/45" konzentrierte sich auf die Alltagsgeschichte der Stadt. Manfred wusste lediglich von einer Außendienststelle der Gestapo in der nächstgrößeren Stadt. Und Manfred wusste auch, dass es keineswegs sicher war, dass die Akten dieser Dienststelle irgendwo aufzufinden waren.
Denn es konnte durchaus vorkommen, dass die Gestapo-Akten nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden. Zuweilen wurden sie wiedergefunden, etwa auf Dachböden oder in Baracken irgendwo in der Walachei. Aber nicht immer blieb der Gestapo im Chaos des Zusammenbruchs die Zeit, die Spuren ihrer Taten zu verwischen und so standen den Wissenschaftlern einige Aufzeichnungen der Gestapo für ihre Recherchen zur Verfügung. Oft mussten sie dabei gegen den verdeckten Widerstand hoch anerkannter Bürger arbeiten, die das Schweigen darüber, dass in ihrer angesehenen Familie der ein oder andere im Nationalsozialismus gut dekorierte Positionen in zweifelhaften staatlichen Institutionen ausgefüllt hatte, nicht gebrochen sehen wollten.
In diesem Wissen war Manfred froh zu erfahren, dass die Akten der von ihm gesuchten Gestapo-Außendienststelle, die dann möglicherweise auch in einem schriftlichen Austausch mit der Keller-Gestapo in Neuenkirchburg stand, in einem nahen Staatsarchiv aufgehoben waren. Dass es sich dabei gleich um 3.000 Dokumente handelte, hatte sich Manfred jedoch nicht gewünscht.
Beim Quellenstudium seine Ruhe nicht zu verlieren, war für Manfred keine leichte Aufgabe. Nicht, weil er an
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