Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
seiner Fähigkeit zweifelte, die Berge von Quellen in einer erträglichen Zeiteinheit durchzuarbeiten; fand er eine Tätigkeit sinnvoll, konnte er hart arbeiten, so hatte er sich jedenfalls schon oft erfahren. Nein, es war etwas anderes, was ihm mit der Zeit zu schaffen machte. Bei jeder Akte konnte man sich vorstellen, was da an Verbrechen geschehen war; es handelte sich nicht einfach um eine trockene Meldung, wenn die Abteilung IV A 1, die für die Bekämpfung marxistischen Widerstands und Feindpropaganda verantwortlich war, eine Nachricht darüber verfasste, dass eine junge Arbeiterin in Sicherheitsgewahrsam genommen wurde, weil ihr in der Kantine „Scheiß Krieg“ rausgerutscht war. Die war vielleicht bald tot, und sie war das nicht aus natürlichen Gründen. Über solche Zusammenhänge musste Manfred oft schlucken, wenn er im Lesesaal des Staatsarchivs die Quellen studierte. Irgendwann hörte er dabei hinter sich eine Stimme.
„Wir haben noch einen über. Gleich ist Feierabend und der muss weg.“
Überrascht drehte sich Manfred um. Er sah einen Becher Kaffee in der Hand eines etwa gleich alten Mannes, ein Mitarbeiter des Staatsarchivs. „Danke! Das ist aber freundlich.“
„Ich hab' dein Fluchen vorhin im Flur mitbekommen, als du vor dem Kaffeeautomaten in dein leeres Portemonnaie geschaut hast .... Ich war mal bei den Pfadfindern und da hieß es ̦Jeden Tag eine gute Tat̒.“
Manfred sagte „Klasse“ und schlürfte vorsichtig aus seinem Becher; eigentlich war hier im Lesesaal der Verzehr von Speisen und Getränken nicht erlaubt. Der Angestellte trug Hose und Jacke aus Jeans, darunter ein helles Sweatshirt und Turnschuhe, keine unsportliche Erscheinung. Krause Haare zierten ein bestimmtes wie nettes Gesicht. Der sieht ja aus wie ich, fand Manfred.
„Vor fünf Jahren oder so war schon mal jemand an deinen Akten. Jemand von der Uni Hannover.“
„Ich habe dessen Aufsatz gelesen. Daher wusste ich von dem Fund hier. Ich suche nach Akten über meine Heimatstadt Neuenkirchburg.“
Der Mitarbeiter setzte sich neben Manfred, seine Klamotten rochen nach Rauch. Da haben wir ja noch was gemeinsam, erkannte Manfred.
„Worum geht's genau?“
„Die Außendienststelle der Gestapo muss eine Art Unter-Außendienststelle in Neuenkirchburg gehabt...“
„Das wäre ungewöhnlich“, wurde Manfred von dem Mitarbeiter des Staatsarchivs unterbrochen. „Die Gestapo war nicht flächendeckend tätig, einen Mythos, den sie selbst in die Welt gesetzt hatte, um sich im Konkurrenzkampf der Polizeiinstitutionen hervorzuheben, das stimmte aber nicht. Dazu fehlte das Personal. Nur wenn die einen triftigen Grund hatten, gingen sie in die Provinz.“
Der Mann kennt sich aus, registrierte Manfred und fragte: „Was konnte denn ein triftiger Grund sein?“
„Nach der Ausrufung des totalen Krieges im Februar 1943 war es oft Sabotage, die die Gestapo zu besonderen Kommandos trieb.“
„In einer kleinen Stadt...“
„Gerade in einer kleinen Stadt“, unterbrach ihn der Angestellte erneut. “Auch der Widerstand wusste um die Lücken bei der Sicherheitspolizei.“
Manfred drehte sich fast ruckartig zu seinen Akten.
„Sabotagebekämpfung war die Abteilung IV A 2. Die...“
„...liegen noch in der Ausleihe. Ich habe dir heute Morgen selbst deine Akten übergeben. Die waren alle von der Abteilung IV A 1.“
„Die Ausleihe hat leider ...“
„... schon geschlossen. Aber ich kann die Akten trotzdem besorgen. Warte ein Moment.“
Er ist ja nett, aber er könnte mich ausreden lassen, fand Manfred. Es dauerte keine fünf Minuten und der Mitarbeiter des Archivs kam mit einem riesigen Stapel Akten zurück.
„Wow, das ist ja...“
„...eine ganze Menge. Ich helfe dir ein halbes Stündchen. Ist eh nichts zu tun.“
Manfred wollte gerade ablehnen, da überlegte er es sich anders. Die Erfahrung des Angestellten konnte hilfreich sein.
„Vier Augen sehen mehr als zwei“, sagte der Mitarbeiter und bestand darauf, dass jedes von Manfred begutachtete Dokument anschließend zu ihm wanderte. Manfred glaubte, dass sein Helfer froh war, als der endlich einen Grund zum Tadel fand.
„Ich glaube, hier hast du was übersehen.“
Manfred wartete ab. Gerade wollte er nachfragen, da setze der Archivar zum Sprechen an.
„Hier ist ein Schreiben vom Reichssicherheitshauptamt aus Berlin an den Leiter der Abteilung IV A 2 der hiesigen Außendienststelle.“
Manfred beugte sich rüber, gemeinsam suchten sie in dem Brief nach den
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