Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
entscheidenden Passagen: „Seit Mitte 1943 liefert die Neuenkirchburger Zahnradfabrik MERTENS zunehmend qualitativ minderwertige und fehlerhafte Waren aus. In der Folge leidet die Funktionsfähigkeit der Endprodukte (Kleintransporter und Lastwagen) beträchtlich... Die Untersuchung ergab, dass die Veränderungen auf Sabotage in der Produktion zurückzuführen sind... Die dringend zu erledigenden Abwehrmaßnahmen werden von Kriminalassistent Klaus Wilkens geleitet... Weiteres Personal ist aus dem Bestand Ihrer Außendienststelle zu rekrutieren.“ Unterzeichnet war das Schreiben mit „im Auftrag Reichskriminaldirektor Heinz Mahldorf, 23. September 1944“.
Manfred griff zum Kaffee, der war aber leer. „Die Firma MERTENS wurde in der Weimarer Zeit der bedeutendste Betrieb in meiner Stadt. In den Sechzigern hat er irgendwann dichtgemacht.“
Der Angestellte schaute nach oben. „Ich frage mich, ob...“
„...nicht noch weitere Akten etwas zu dem Fall zu sagen haben.“ Unterbrechen kann ich auch, dachte Manfred.
Der Angestellte schaute nervös, irgendetwas war mit ihm geschehen. Sogleich drückte er sich vom Stuhl hoch. „Naja, du weißt ja, was du zu tun hast, ich wünsche dir noch viel Glück.“ Sagte es und verschwand.
Komischer Kauz, dachte Manfred.
*
Was für ein Idiot, der kriegt irgendwann einen Herzinfarkt, wenn er sich weiterhin so in die Hosen macht. Manfred überholte gerade auf der A 9 mit einer Differenz von zwei Stundenkilometern ein Auto mit Anhänger, als er an den Schulleiter denken musste. Und zwar an denjenigen Schulleiter, den er vor einigen Tagen neu kennen gelernt hatte, Peer Stung, den aktuellen Rektor des humanistischen Gymnasiums von Neuenkirchburg. Ich muss aufpassen, dass ich bei der Vielzahl von Schulleitern nicht durcheinander komme, forderte Manfred sich auf.
Erst nachdem Rektor Peer Stung die eindeutige Rechtslage nicht mehr hatte leugnen können und Manfreds Professor das Anliegen am Telefon ausführlich begründet hatte, zeigte er sich bereit, die Außentür zu den hinteren Kellerräumen, die an der dortigen Stirnseite des riesigen Schulgebäudes lag, zu öffnen. Anschließend blieb er Manfred auf Schritt und Tritt auf den Fersen, bis dem irgendwann der Kragen platzte: „Sie lassen mich hier jetzt in Ruhe umschauen oder ich erzähle der Presse, dass das Gymnasium die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit behindert. Das sind dort alles heimliche Kommunisten, ich kenne die, glauben Sie mir, die freuen sich, wenn sie so etwas schreiben dürfen.“ Die Ansage verfehlte nicht ihre Wirkung. Peer Stung hatte vor kaum mehr Angst als vor schlechten Nachrichten über seine Lehranstalt. Als er mit einem „Ja, ja“ den Keller verließ, schloss Manfred hinter ihm ab.
Als erstes überflog Manfred die Räumlichkeiten, überall schaltete er das Licht an. Der lange Flur endete nach 15 Schritten, dahinter schloss sich hinter einer dicken Mauer das vom Treppenhaus der Schule direkt zu erreichende Untergeschoss an, das heute als Abstellraum diente. In der NS-Zeit wurde in diesem Teil unterrichtet; vor allem dort wird man die Gestapo bei ihrem unsäglichen Tun gehört haben, überlegte Manfred.
Von dem langen Flur, den Manfred einige Mal auf und ab schritt, gingen zu beiden Seiten jeweils vier Räume ab, alle in Wohnzimmergröße. Überall war es feucht, Schimmel an den Außenwänden, Spinnengewebe. Es war ein ganz normaler Großraumkeller eines öffentlichen Gebäudes aus dem Kaiserreich, vielleicht 90 Jahre alt, nie renoviert. Aus den Fensterluken sah man in wenigen Metern Entfernung eine hohe Mauer, die das Schulgrundstück von den Wohnhäusern abtrennte. Bei einem seitlichen Fensterblick konnte man nicht minder hohe Holzzäune sehen, die den hinteren Keller von Schulhof und, auf der anderen Seite, vom Fahrradschuppen abgrenzte. Manfred wurde klar, dass hier die Gestapo ihre Arbeit verrichten konnte, ohne den Blicken von neugierigen Schülern ausgesetzt gewesen zu sein.
Dass die Gestapo sich wohl fremden Augen, aber nicht vollständig anderen Ohren hatte entziehen können, hatten Manfred und Ilona schon bei ihrem Quellenstudium vor elf Jahren erfahren und das war ihm von Adolf Wegemann jüngst noch einmal bestätigt worden. Und auch der Rundgang durch den Keller bekräftigte das. In mehreren Räumen waren die Fenster zugemauert. Ganz offensichtlich, gab es für Manfred keinen Zweifel, sollte das den Schall dämpfen.
Was Manfred hier im Keller machte verdiente nicht die
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