Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
ganz seiner Phantasie, mal erinnerte er sich an das Erkenntnisinteresse anderer NS-Forscher, welche ihm, wenn auch in abgewandelter Form, für die Anfertigung einer eigenen Niederschrift von Nutzen erschien. So überlegte er, seine Diplomarbeit unter die Fragen zu stellen, wie viele Frauen unter den Verfolgten waren, welchen Altersgruppen die Opfer angehörten, welche Vorwürfe gegen die Gefangenen erhoben wurden, ob die Keller-Gestapo in alleiniger Entscheidungsgewalt ihrer Arbeit nachging, ob andere Stellen der Stadt etwas von der Keller-Gestapo wussten und im Briefverkehr vielleicht einbezogen waren, oder wer für die Keller-Gestapo aus der Zivilbevölkerung gearbeitet hat. Das erschöpfende Behandeln von einigen solcher Fragen würde, hoffte Manfred, für die Anfertigung einer Diplomarbeit genügen, sofern er gegenüber dem Prüfungsausschuss deutlich machen konnte, warum diese Themen für die Wissenschaft einen Gewinn darstellen.
Die Zahl von 423 Dokumenten verlor so ihren Schrecken, denn für ein konsequent selektives Vorgehen müsste er seine eingeschränkten Fähigkeiten im sogenannten Diagonal-Lesen nutzen, was so viel hieß, dass er einen Text im Eiltempo zu überfliegen wusste und alles überlas und konsequent gedanklich zur Seite schob, was nicht genau auf seine Frage passte.
Mit diesen Vorüberlegungen schien Manfred seinem Ziel, halbwegs entspannt und in absehbarer Zeit etwas Ausreichendes zu Papier zu bringen, näherkommen zu können. Voller Tatendrang ging Manfred ans Werk. Für die alles entscheidende Fragestellung seiner Untersuchung gedachte er sich gleich entscheiden zu wollen. Erst einmal wollte er sich mit Muße die eine oder andere Quelle im Ganzen anschauen, um überhaupt ein Gefühl für das Schriftmaterial zu bekommen.
*
„Manfred!“
Das Klopfen gegen Manfreds Zimmertür war lauter geworden. Schließlich hatte er das Gespräch ohne weitere Erklärung abgebrochen und seitdem jede Äußerung verweigert. Aber Conny gab nicht auf.
„Manfred!“
„Nun ist doch mal gut, Conny. Es ist alles gesagt.“
„Ich mach‘ mir Sorgen.“
„Freu dich. Ich habe welche. Übrigens schon ein Leben lang.“
„Du musst doch auch mal was Anständiges essen.“
„Hab‘ ich doch. Gestern.“
„Du hast eine Pizza gefuttert, das ist doch nichts Anständiges.“
„Doch. Die war sogar vegetarisch. Außerdem kann ich mit dem Wort anständig derzeit nicht sonderlich viel anfangen. Eher wird mir schlecht dabei.“
Eine Zeit lang blieb es ruhig, dann hörte man Manfred irgendwas grummeln. Plötzlich schloss er seine Zimmertür auf, er hatte es sich anders überlegt. „Also gut. Du kannst reinkommen.“
Conny hielt sich die Hand vorm Mund, als sie in Manfreds Zimmer eintrat und um sich schaute. „Wie sieht das denn hier aus?“
„Leben ist Wandel, Zimmergestaltung auch.“
Manfreds mittelgroße Altbaustube mit Gitterfenster und Deckenverzierungen war fast so hoch wie lang. Zwei Wände hatte Manfred vor ein paar Jahren hellbraun gestrichen, zwei andere dunkelrot. Das Fenster schien in der 80-jährigen Geschichte des Hauses nie ausgetauscht worden zu sein; eine Wolldecke auf dem Sims sollte die kalten Tage draußen halten. Die Grünpflanzen, die bis nahe dem oberen Fensterrand wuchsen, schienen genauso unverwüstlich wie das Mobiliar. Um einen schweren großen Tisch standen zwei robuste Gartenstühle; auch Schreibtisch und Sessel machten den Eindruck, als könnten sie in der freien Natur überleben. Der einfache Kleiderschrank schien aus den frühen sechziger Jahren und somit jüngstes Möbelstück zu sein; die auf dem Boden liegende Matratze war eher noch einen Tick älter.
Das alles kannte Conny. Es war etwas anderes, was sie staunen ließ.
Manfred hatte eine Unmenge von großen Plakaten mit der freien Rückseite an den Wänden befestigt, um so Platz für allerhand schriftliche Aufzeichnungen zu bekommen. Dafür hatte er sogar seine Wandregale abmontiert und sie samt der Bücher in den Keller verfrachtet.
Gleich alle vier Wände seines Zimmers waren vollgehängt mit dicht beschriebenen Papierbögen, zum Teil reichten sie bis an die vier Meter hohe Decke heran.
„Wow!“, jauchzte Conny. „Da war aber jemand fleißig.“
„Setz dich, Conny. Ich mach‘ uns ‘nen Kaffee. Bis dahin hast du dich ausgestaunt und dir ein paar Überschriften angeschaut.“
Es dauerte ein paar Minuten, bis Manfred mit zwei großen Bechern zurückkam. Der Blick auf die Plakate hatte Connys Gesicht
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