Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
verschiedener Mitarbeiterlisten von MERTENS mehrere hundert Personen in den Akten Erwähnung fanden, davon schienen Dutzende von der Keller-Gestapo verhört worden zu sein. Darunter waren lediglich zwei Frauen, obwohl sie, wie es am Ende der Nazi-Zeit üblich war, neben den Kriegsgefangenen einen beträchtlichen Teil der Belegschaft darstellten. Alle Altersklassen waren vertreten – auch deutsche Staatsangehörige im besten Soldatenalter, zumeist waren es Kriegsversehrte.
Die letzte Beobachtung machte Manfred hellhörig. Neben den Kriegsversehrten in der Belegschaft gab es auch einige Dutzend fronttaugliche Männer, die von der Betriebsleitung gegenüber den Wehrerfassungsstellen erfolgreich für „unabkömmlich“ erklärt werden konnten. Das war eine relativ hohe Zahl. Es konnte dafür zwei Gründe geben. Entweder hatte MERTENS einen besonders durchsetzungsfähigen Betriebsleiter oder die Arbeit in der Zahnradproduktion erforderte tatsächlich so hoch spezialisierte Fachkräfte, dass sie von den Frauen oder Kriegsgefangenen nicht in einer annehmbaren Zeiteinheit erlernt werden konnte.
So oder so, dachte Manfred, verhielt es sich bei MERTENS wie in anderen Betrieben, so könnte bei den angestammten Belegschaftsmitgliedern der Herd des Widerstands gelegen haben. Da in den Akten stets vermerkt war, seit wann und in welchen Positionen die Mitarbeiter bei MERTENS beschäftigt waren, erfuhr Manfred im Folgenden einiges, was diese Vermutung bestätigte: Ein Großteil der Männer, die von der Keller-Gestapo verhört worden waren, arbeitete schon lange im Betrieb, viele sogar seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Sie hatten somit die Novemberrevolution, die Gewerkschaftskämpfe der zwanziger Jahre und die Diskussionen in den damaligen beiden großen Arbeiterparteien miterlebt. Aus denen waren recht selten Nazis geworden, wusste Manfred. Und ihm war auch bekannt, dass solche Männer in kleineren Städten die Nazizeit oft überlebten – sofern sie sich ruhig verhielten oder ihren Widerstand ohne Entdeckung zu leisten vermochten.
Manfred begleitete seine Recherchen mehrmals mit einem Stöhnen, denn sie legte eine weitere interessante Frage offen: Welche politische Biografie hatten diese Männer, die augenscheinlich die Sabotageakte bei MERTENS initiiert hatten, genau? Das war eine Frage von hoher Brisanz, gab es in den Forschungsarbeiten zum Nationalsozialismus doch sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber, wer den Widerstand, und zwar den, der den Nazis wirklich weh tat, getragen hatte.
Manfred konnte sich denken, dass so einige Bürger in Neuenkirchburg von dieser Frage nichts wissen wollten.
*
Conny hatte intensiv zugehört. „Warum hat die Gestapo überhaupt noch so einen Umstand gemacht? Verhöre, Papiere geschrieben, und so weiter. Es war doch die Zeit standrechtlicher Erschießungen. Es wurde kurzer Prozess gemacht.“
„Nein, das war vor allem die SS, nicht die Gestapo. Schauerlich berühmt geworden sind die Fotos, wo Menschen an den Straßenlaternen baumeln, weil sie angesichts des bevorstehenden Einmarschs der Alliierten die weiße Fahne aus dem Fenster gehängt haben.“ Manfred schlug ein Buch auf, das ein solches Lichtbild zeigte.
„Mein Gott“, schrie Conny.
„Wo war der eigentlich?“, ätzte Manfred, aber sofort kam er wieder zum Thema. „Wie gesagt, das war die SS. Die Gestapo hatte bis zuletzt kriminalpolizeiliche Aufgaben zu versehen.“
„Deswegen waren die wohl nicht besser.“
„Wohl kaum. Auch wenn es Historiker gibt, die viel Gehirnschmalz darauf verwenden, die eigentlichen Bösartigkeiten bei der SS und anderen Organisationen der NSDAP auszumachen und die staatlichen Organisationen wie die Gestapo als eher halbwegs anständig dastehen zu lassen... Verstehst du jetzt, warum ich vorhin sagte, dass mir bei dem Begriff ‚anständig‘ schlecht wird?“
Conny nickte, von neuem fiel ihr Blick auf das Foto mit den am Straßenrand aufgehängten Menschen.
„Am Ende des Krieges gab es, was die Grausamkeit angeht, kaum noch Unterschiede zwischen den Sicherheitskräften des dritten Reiches. Nur die Methoden waren andere...“
„Sagen dir das die Akten?“
„Ja. Die Indizien sprechen eine eindeutige Sprache.“ Manfred holte tief Luft, er schien Kraft für seine weiteren Ausführungen zu brauchen. „Auch wenn einige Aufsätze zur NS-Zeit ebenfalls von üblen Methoden der Gestapo zu berichten wissen, so scheint die Keller-Gestapo ganz besonders engagiert gewesen zu
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