Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
sein.“
Connys konnte nicht von dem Foto lassen. „Ich will jetzt nichts weiter über die Verbrechen wissen. Ich weiß ja, wie es dir damit ergangen ist.“
„Nein, nein. Conny. Die Grausamkeiten waren es nicht, die mich fertiggemacht haben. Sich mit Gräueltaten in der Geschichte auseinanderzusetzen, kann einen mitnehmen. Aber man verdaut es. Existenziell...“
„Was war es dann?“
„Moment, Conny“, wollte sich Manfred nicht unterbrechen lassen. „Existentiell werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit erst dann, wenn man sie an eigener Haut erfährt.“
„Ich verstehe nicht...“
„Ich verstand es auch nicht.“
*
Aus Manfreds Vorhaben, sich mit Muße einige Quellen genauer anzuschauen, um ein Gefühl für seine Arbeit zu bekommen, war nichts geworden. Bereits nach dem Lesen der ersten Sätze hätte sich Manfred am liebsten selbst geohrfeigt für eine solche Absicht, denn schnell wurde ihm klar, dass Seelenruhe und Forschung über die NS-Zeit überhaupt nicht zusammenpasst. Er neigte seinen Kopf zur Brust und hob seine Hand zum Victory-Zeichen. So viel Pathos muss schon sein, fand er.
Zumal schon das erste Dokument der Keller-Gestapo, welches Manfred sich intensiv vornahm, ihm auf einem Blick gezeigt hatte, zu was die Gestapo in Neuenkirchburg in der Lage war.
„Bei Fluchtversuch erschossen“, hieß es in der Betreffzeile des Dokuments. Nach einigen Personaldaten folgte der Satz: „Nach den staatspolizeilichen Feststellungen über seine Verantwortung für das fehlerhafte Entgraten der Zahnradserie F 54.13 konnte das wachhabende Personal den Fluchtversuch vereiteln.“ Darunter stand: „beglaubigt“, der daneben stehende Name war von Klaus Wilkens schwarz durchgestrichen worden. 67 Jahre alt war der Arbeiter geworden, seit 1918 im Betrieb, Maschinenführer, verheiratet.
Die angegebene Todesursache war ein Witz, und zwar ein ausgesprochen schlechter, urteilte Manfred. „Auf der Flucht erschossen“ war eine typische Umschreibung für die Ermordung von Widerstandskämpfern. Selten wurden die Familienangehörige über den wahren Grund des Todes informiert. Wie handhabte das wohl die Keller-Gestapo?
Manfred ging zum Fenster, schaute durch seine dicht verästelten Grünpflanzen auf die Straße seiner Altstadt. Was für eine Geschichte hatte der 67-jährige Arbeiter wohl? Vielleicht war er schon im Kaiserreich ein bei seinen Kollegen angesehener Vertreter seines Standes und glaubte, wie es seinerzeit in der Arbeiterschaft üblich war, an den baldigen Kladderadatsch, das heißt daran, dass sowieso bald alles zusammenbricht und danach das Paradies auf Erden beginnt. Die Erfahrung von Erstem Weltkrieg und Revolution wird ihm Ernüchterung gebracht haben, vielen anderen war es jedenfalls so ergangen. Ob der Maschinist in seinen letzten Jahren noch an irgendetwas glaubte? Was wusste er von der Welt? Der Wille zum Widerstand konnte viele Gründe haben, wusste Manfred. Manche retteten sich so einfach davor, vor lauter Verzweiflung über die braune Terrorherrschaft und verloren gegangener Träume nicht selbst Schluss mit dem Leben zu machen.
Manfred setzte sich an den großen Tisch, wütend auf die Welt, öffnete ein Buch und las zum wiederholten Mal den Kommentar des Schriftstellers Günther Weisenborn. „ Das Dritte Reich führte seinen ersten Krieg gegen den lautlosen Aufstand der deutschen Widerstandsbewegung, und es war ein fürchterlicher und verheimlichter Krieg... Auf die Widerstandskämpfer warteten Flüche und Folter in den Kellern. Alles wurde ihnen genommen: ihr Besitz, die Ankerkennung ihrer Familie, ihr guter Name, ihre Ehre und das Leben. Und doch gingen sie diesen fürchterlichen Weg... Ihre Prozesse, ihre Massenhinrichtungen, ihre Aussagen, ihre Taten wurden verheimlicht, so sehr, dass selbst Vater und Mutter nicht erfuhren, warum ihre Söhne plötzlich verschwanden. Und auch nach dem Kriege wurde wenig über sie bekannt .“
In der Tat wurde lange Zeit wenig über die Widerständler bekannt, und für die Opfer der Keller-Gestapo dieses unseligen Neuenkirchburg gilt das bis heute, dachte Manfred – eine Höllenarbeit, im wahrsten Sinne des Wortes, das alles genau für die Keller-Gestapo erforschen zu wollen. Denn dazu wäre nicht nur ein erschöpfendes Quellenstudium, sondern auch Nachforschungen über die Angehörigen nötig. Manfred bekam augenblicklich einen Heidenrespekt vor geistiger Arbeit, die sich über viele Jahre einem einzigen Gegenstand widmet.
Aber nun
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