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Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Titel: Wo der Tod begraben liegt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Gohlke
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konzentrierte sich im Wissen möglicher Überforderung auf die Gegebenheit, die bereits am gestrigen Tag zwischen ihm und Ilona Erwähnung gefunden hatte. Ob ich es noch weiß, fragte sich Manfred, wie mir zumute war, als ich Ilona nach dem Ende der Grundschulzeit auf einmal nicht mehr sehen konnte? Hatte ich das einfach in klassischer Manier nach den Möglichkeiten eines zehnjährigen Jungen verdrängt? Wenn ja, wie geschickt war ich wohl dabei, den Schmerz nicht zuzulassen? Bei diesem Gedanken verweilte Manfred eine Zeit, irgendwas wollte sich in seinem Kopf Raum verschaffen und, denke da, bald erinnerte er sich daran, dass er ihr damals einen Brief geschrieben hatte, eine Erinnerung, die ihm augenblicklich nicht gut tat. Manfred pustete durch. Sein Blick suchte jetzt Ilonas Hände, als er darüber sinnierte, dass sie es war, der er damals mit dem Erzählen über seinen Vater sein Herz öffnete, nicht etwa seiner Mutter, einem nahen Verwandten oder einem Freund, von denen es zu der Zeit noch einige gegeben hatte, denn ein Einzelgänger wurde er erst später. Warum, fragte sich Manfred, und dabei suchte er, traurig wie entschlossen zugleich, den Augenkontakt mit seinem Gegenüber, wählte ich damals ausgerechnet Ilona für die Darlegungen über meinen Vater?
    Auch Ilonas Rückblick war in diesen Minuten des stillen Frühstückens ganz von dem gestrigen Gespräch über die Begegnung in der Grundschulzeit geprägt. Manfred und ich haben uns einiges, dachte Ilona zu ihrer eigenen Überraschung in schonungsloser Offenheit, an unterdrückten Gefühlen angetan. Und die in der Grundschulzeit, die sind zwar am längsten her von allen, aber sind sie deswegen auch am weitesten weg? Zurzeit sowieso nicht, beantwortete sich Ilona die Frage sogleich selbst, denn es war gestern ja unser Thema, aber an welche Stelle würde ich den Abbruch unserer Beziehung nach der Grundschule wohl setzen, wenn ich mal eine Rangordnung der Schmerzen erstellen werde, die wir uns gegenseitig zugefügt haben? Ilona erschrak fast, mit welchem Willen zur Wahrheit sie dem Wiedersehen mit Manfred im Moment eine ausgesprochen hohe Bedeutung zu geben gedachte. Das Leben wird kürzer, somit will man oft nicht mehr einfach etwas beiseiteschieben, beendete sie ihre Gedanken.
    Irgendetwas musste zwischen Ilona und Manfred nun gesagt werden, was dem vielen Gedachten halbwegs entsprechen konnte. Vieles bot sich an, damit es nicht zu einer von Hilflosigkeit oder Traurigkeit bestimmten Stimmung kommt. Endlich fiel Manfred fiel etwas ein.
    „Ich bring dich rum," schien er etwas bestimmen zu wollen.
    Im Blick von Ilona zeigte sich sofort etwas erleichterndes. Sie wusste, was Manfred meinte, fragte aber: „Rum oder um?“
    „Letzteres nur über meine Leiche.“
    Natürlich hätte Ilona darauf hinweisen können, dass eine Autofahrt von Gorleben über Bonn nach Frankfurt ja ein ganz schöner Umweg für Manfred bedeutete und dass er morgen doch wieder zur Arbeit musste und dann bestimmt völlig kaputt wäre, wenn er vorher bis in den Abend hinein im Auto gesessen hat. Aber eine solche Erwiderung wäre, unter der Würde ihrer Geschichte gewesen.
    Hoffentlich hält mein Kadett nicht durch, dachte Manfred noch.
     
    *
     
    Die Freude auf einen zweiten gemeinsamen Tag setzte Energien frei und so starteten Ilona und Manfred noch einmal zu einem ausführlichen Gang an den 110 Hütten vorbei, wünschten den Dorfbewohnern viel Glück, ein bleibendes Durchhaltevermögen und versicherten – fast immer mit einem Schuss Pathos und in innerer Verbeugung vor dem Heldenmut der Anwesenden – ihre feste und durch nichts zu erschütternde Solidarität. Dabei betonten sie, in den nächsten Tagen am eigenen Ort fleißig über das Anliegen der Republik Freies Wendland Aufklärungsarbeit zu leisten. „Woher kommt ihr“ und „Wohin geht ihr“ waren die am häufigsten gestellten Fragen, die Ilona und Manfred immer wieder gern und nicht ohne Stolz, einen recht weiten Weg auf sich genommen zu haben, beantworteten.
    Da Ilona und Manfred, auch wenn sie das im Moment gar nicht genauer wissen wollten, füreinander so offen waren, fiel es den beiden bei den vielen Hallos und kurzen Gesprächen auch nicht schwer, allen Menschen mit viel Herzlichkeit zu begegnen und somit genau die Unterstützung zu geben, die das Widerstandsnest jetzt am meisten brauchte. Die Republik Freies Wendland würde bald geräumt werden, darüber machte sich kaum einer ihrer Bewohner Illusionen. Irgendwo würden die

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