Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
große Bedeutung. Manfred hatte soeben gegenüber Ilona darauf bestehen können, dass sie nicht über die gemeinsame Grundschulzeit reden, aber er hatte nicht verhindern können, dass sowohl er als auch Ilona in den folgenden Minuten daran denken mussten. Denn Gedanken lassen sich bekanntlich nicht untersagen, sie sind es gewohnt zu machen, was sie wollen.
Fast zeitgleich schauten Ilona und Manfred vom Bach hoch. Ilona sprach es aus, was ihr aufgefallen war. „Manfred, du hattest damals zu mir gesagt ‚Mein Vater ist im Krieg umgebracht worden‘, erinnerst du dich?“
Manfred sagte nichts.
„Ich glaube nicht, dass das ein Zufall war. Ich glaube nicht, dass du ganz unbedarft von umgebracht statt von umgekommen oder so gesprochen hattest. Du hast gewusst, dass der Tod deines Vaters nicht rechtens ist.“ Ilona schien sich über ihre Auffassung selbst erschrocken zu haben, sie drehte den Kopf zu Manfred, als sie wiederholte: „Dass du als 10-Jähriger den Tod deines Vaters als Mord bezeichnet hast, war kein sprachliches Versehen! Das war kein Zufall!“
Manfred stand langsam auf und ging die wenigen Schritte zum Ufer. Einen Moment schaute er zu Ilona zurück, dann ging er in die Hocke, nahm einen Stock und kritzelte damit in der Erde rum. „Zufälle gehörten zu dem Wenigen, an das ich bisher noch geglaubt habe.“
*
Ernst kommt anscheinend vor dem Spaß, dachte Manfred, als er mit Ilona bei der Zubereitung des Abendessens half. Die beiden hatten eine Zeit gebraucht, um sich von der Schwere ihrer Gedanken zu lösen, aber irgendwann, befördert durch die große Zahl scherzender Mitmenschen, war es dann wieder soweit, dass sie ganz in der Jetztzeit angekommen waren und mit Fröhlichkeit die Widerstandskraft des kleinen, unbeugsamen Dorfes, wie einige Bewohner der Republik Freies Wendland ihre Örtlichkeit gern nannten, mit Speis‘ und Trank zu stärken halfen.
Der Aufnahme von Nahrungsmitteln schlossen sich Genussmittel an. Bewohner und Besucher saßen vor oder in den Hütten und tranken die verschiedensten Sorten von Tee, Bier und Wein. Hier und dort hätten die verwerteten Rauchwaren vor einer polizeilichen Kontrolle keinen Bestand gehabt, was aber für niemanden ein Problem darstellte. Es wurde Musik gemacht und einige Leute tanzten. In der Regel ging man sorgsam miteinander um. Komische Kauze, von denen es eine ganze Reihe gab, störten bei der Umsetzung des Anspruchs auf ein gelungenes soziales Miteinander kaum; die meisten Bewohner der Republik Freies Wendland gingen ihnen einfach aus dem Weg.
Dass vor allem von jungen Leuten getragene Hüttendorf zeigte sich somit, und darüber waren nicht wenige überrascht, in jeder Beziehung gut aufgestellt. Aber auch wenn die Organisation des Dorfes im Großen und Ganzen gelang, auch wenn sich an diesem Ort überdurchschnittlich viele Menschen aufhielten, denen man anmerkte, dass sie Angst und Ekel vor der Perspektive eines entfremdeten Lebens haben, so wollte eine, wie man es durchaus hätte vermuten können, irgendwie romantisch geprägte Stimmung nicht aufkommen. Angesichts der tödlichen Bedrohung, welche das geplante Atommülllager in Gorleben in den Augen der Bewohner des Hüttendorfes darstellte, gab es zwar ein Bedürfnis, dem Beseelten und Schwärmerischen Raum zu geben, aber zur Entfaltung kam eine solche Neigung nie. „Kann sie auch gar nicht“, meinte Manfred irgendwann, nachdem er schon eine ganze Weile mit Ilona über den Charakter des Hüttendorfes gesprochen hatte.
Damit nahm Manfred Bezug auf die im Hüttendorf stets zu hörende Einschätzung, dass das Dorf keinerlei Zukunft hat, eine Aussicht, die sich wie ein Schleier über die Stimmung der Republik Freies Wendland legte und jedes Hochgefühl, kaum dass es sich zu verselbstständigen begann, alsbald in die Schranken wies. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Bagger kommen und alles niederreißen würde, denn der Staat, und mit ihm auch ein großer Teil der Gesellschaft, war sich einig darüber, dass das Hüttendorf keine Schule machen durfte.
Manfred und Ilona unterhielten sich im wärmenden Schutz eines der Lagerfeuer, die überall im Dorf loderten. Sie waren die letzten an ihrem Feuer, alle anderen waren zu Bett gegangen. Von Müdigkeit war bei beiden trotz des langen und arbeitsreichen Tages keine Spur. Der Wein war schon reichlich geflossen, sowohl Manfred als auch Ilona hätten sich zumindest als beschwipst bezeichnet.
„Um die Energieversorgung geht es nur nebenbei“,
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