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Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Titel: Wo der Tod begraben liegt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Gohlke
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ausgezeichnet hatte, denn die Angelegenheit, auf die man nach einer Weile zu sprechen begann, konnte unmöglich einer Leichtigkeit standhalten. Es blieb zwar entspannt zwischen Manfred und Ilona, als sie sich auf einem Baumstamm nahe eines kleinen Baches setzten und ihr schon länger andauerndes Gespräch weiter vertieften, aber nach Frohsinn war ihnen schon eine ganze Zeit nicht mehr zumute. Manfred hatte über sein Studium und seine Diplomarbeit berichtet, wobei ihn Ilonas Neugier dazu trieb, auch seinen Fund über die Ermordung seines Vaters durch die Keller-Gestapo zu erwähnen. Ilona war ihr Entsetzen augenblicklich anzusehen. Offensichtlich konnte sie sich denken, wie sehr Manfred unter der bizarren Konfrontation mit der Tötung seines Vaters gelitten haben muss. Wie zur Bestätigung ihrer Ahnung sagte sie irgendwann: „Wir lernten uns in der Grundschule darüber kennen, dass du auch immer von deinem Vater erzählt hast. Du warst im Trauma, erst spät erfuhr ich, dass er gar nicht mehr...“
    „Das muss nicht sein, Ilona. Wir wissen, was damals gelaufen ist.“
    Ilona und Manfred hatten sich auf dem Pausenhof kennen gelernt. Sie gingen in die vierte Klasse; Manfred in die 4a, Ilona in die 4b. Mit der Frage, was Papa denn für einen Beruf hat, begann alles. Ein halbes Jahr waren sie in jeder Pause zusammen. Es dauerte nicht lang und sie gingen den Schulweg so weit wie möglich zusammen. Hatte der eine früher Schluss, wartete der andere. Hatte jemand sein Pausenbrot vergessen, teilte der andere mit ihm. So war es auch bei Buntstiften oder Heften, eigentlich bei allem, was man damals, man schrieb das Jahr 1949, so in einer Grundschulklasse benötigte. Einmal wechselten sie sogar ihre Strümpfe, weil Ilona durch eine große Pfütze gelaufen war und ganz nasse Füße hatte; Manfred meinte nur, ihm machen die nassen Socken nichts aus, das erfrischt ihn eher ein bisschen. An Manfreds Geburtstag begleitete Ilona ihn auf dem Rückweg bis zu seiner Haustür und dort unterhielten sie sich noch lange, obwohl Ilona wusste, dass die Verspätung zu großem Ärger mit ihrer Mutter führt. Nach der vierten Klasse war der Kontakt zwischen Ilona und Manfred vorbei. Ilona ging aufs Gymnasium, Manfred auf die Hauptschule. Für einige Jahre sah man sich nicht mehr.
    Und jetzt, so befürchtete Manfred jedenfalls, wollte Ilona ihn daran erinnern, dass er damals in der Grundschule eine ganze Zeit ständig über seinen Vater geredet hatte. Bis dahin, also bis zu seinem zehnten Lebensjahr, hatte Manfred nie mit irgendjemandem über seinen Vater gesprochen, aber als Ilona ihn fragte, was sein Papa denn so macht, da ging es los. Auf einmal konnte Manfred überhaupt nicht mehr aufhören von seinem Vater zu erzählen. Dass sein Vater Klaviere baut. Und dass sein Vater, wenn er mal keine Klaviere baut, mit anderen Leuten Musik macht und sich das toll anhört. Und das dann immer alle ganz fröhlich sind. Und dass, wenn sein Vater mal keine Musik macht und keine Klaviere baut, er immer ganz viel erzählt, vor allem von seinem eigenen Vater, der hatte nämlich auch schon Musik gemacht. Und dann berichtete Manfred weiter, dass sein Vater, wenn er mal keine Klaviere baut, Musik macht oder viel erzählt, immer Bücher liest und dass er das auch gern laut macht, und dass er so gut laut lesen kann, dass man immer zuhören muss, auch wenn das für ein Kind eigentlich viel zu schwierig ist, was er da vorliest.
    Und auch wenn Manfred bald eigentlich immer dasselbe von seinem Vater erzählte, so wurde der damals neunjährigen Ilona nie langweilig, ihn darüber sprechen zu hören. Manfred verstand es, so facettenreich und so voller Mimik und Gesten von den vier Gewohnheiten seines Vaters, also von dessen Klavierbauen, Musizieren, Erzählen und Lesen zu berichten, dass Ilona immer wieder mit Interesse zuhörte. Bald war sie ganz angetan von den Künsten von Manfreds Vater und sagte: „Du hast aber einen tollen Vater.“
    Da wurde Manfred ganz stolz, und weil Ilona merkte, dass Manfred dann ganz stolz wurde, sagte sie es immer wieder mal. Und irgendwann sagte sie noch etwas anderes. „Den würde ich ja gerne mal kennen lernen.“
    „Aber das geht doch nicht, Ilona. Der ist im Krieg doch umgebracht worden.“
    Und dieser Satz „Der ist im Krieg doch umgebracht worden“, den Manfred als knapp zehnjähriger Junge gesagt hatte, bekam 30 Jahre später, als Manfred und Ilona in der Nähe der Republik Freies Wendland an einem Bach saßen, auf einmal eine

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