Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
führte Manfred das Thema weiter. „Atomkraftwerke sind für den Staat etwas Heiliges. Es geht um die Verteidigung seelenkranker Traditionen.“
Ilona guckte verdutzt. „Na dann Prost“, sagte sie und stieß ihr Glas an Manfreds. „Sind wir sind noch nüchtern genug, um das klären zu können?“, feixte sie.
„Ich glaube an eine Art historisches Gedächtnis. Und dass dieses Gedächtnis verhängnisvoll wirken kann, sogar wider besserer Absichten.“
Ilona wartete auf weitere Ausführungen, aber die kamen nicht. Sie grübelte noch eine Zeit über Manfreds Sätze, bevor sie sprach: „Unabhängig davon, wie du das genau meinst, ist das eine Betrachtungsart, die ich mögen kann.“ So sicher war sich Ilona mit dieser Äußerung nicht gewesen, aber sie wollte halt was sagen. Nach Möglichkeit was Nettes.
„Klar. Du magst mich ja auch.“ Manfred wunderte sich nicht über seine Bemerkung, er forderte gerade noch ganz andere Sätze von sich, wann auch immer sie gesagt werden sollen. „Ich bleibe mit der Denke aber durchaus in der Logik. Lediglich dieses neue Wort ‚Ganzheitlichkeit‘ hat auch auf mich abgefärbt und bringt mich zuweilen zum Salbadern.“
Manfred versuchte sich gerade hinzusetzen, ganz so, als ob er sich selbst zur Klarheit auffordern wollte. „Macht kann vor Gewalt schützen, ganz bestimmt. Aber das macht die Macht kaum besser – eine fast überfordernde Dialektik, ich weiß. Macht braucht Angst. Und Atomkraftwerke machen Angst.“
„Aha.“ Ilona war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Und Manfred merkte das.
„Ist doch für diese späte Stunde gar nicht so schlecht.“
Ilona musste lachen. Sie nahm kurz seine Hand und sagte: „Dann will ich mal noch ein Glas in der Hoffnung trinken, dir was entgegensetzen zu können.“
Und so kam es in der nächsten Stunde von beiden Seiten zu allerhand gedanklichen Ergüssen, die sich verschroben um allerhand Zusammenhänge bemühten. Bald wurde mehr gelacht als halbwegs klug gedacht; vielversprechende gedankliche Anfänge blieben schnell in der Luft hängen – schon bald sah man auch gar keinen wirklichen Sinn mehr darin, unbedingt etwas richtig zu Ende denken zu müssen.
Irgendwann knüpfte Manfred dann noch einmal an seine ersten Ausführungen an und sagte etwas, an das sich Ilona viele Jahre später erinnern sollte. „Und Angst ist ja auch nur ein Gefühl... und jeder muss selbst wissen, wie er mit Gefühlen umgeht. Vielleicht kann es sogar richtig sein, sich da mehr rauszunehmen, als es erlaubt ist.“
*
Ilona und Manfred hatten sich in der Nacht abgesprochen, am nächsten Morgen auf gar keinen Fall zu früh zum Essen zu kommen, um von der resoluten Küchenleiterin nicht erneut zum Arbeiten verdonnert zu werden. Wie abgemacht, schlug Manfred um neun Uhr gegen Ilonas kleines Zelt, um sie abzuholen.
„Gib mir noch fünf Minuten.“
„Wenn ich solange reinkommen darf...“
Ilona kicherte. Alsbald saßen sich die beiden an einer der langen Essensbänke gegenüber und genossen die Wärme des Kaffeebechers, den sie mit ihren Händen umfassten. Irgendwann wollte es Manfred endlich los werden. „Sag‘ mal, habe ich gestern Nacht eigentlich viel Blech geredet?“
Ilona musste lachen; sie fand es liebenswert, dass er an sich zweifelte. „Ich glaub‘, darin haben wir uns gegenseitig überholt.“
„Na, da bin ich ja beruhigt. Der Mensch will ja keinen schlechten Eindruck machen, wenn man sich nach 12 Jahren wiedersieht.“
Ilona behielt Manfreds Äußerung längere Zeit im Ohr, bald umfasste sie ihren Becher noch fester und schaute etwas an Manfred vorbei, als sie sagte: „Es war schön gestern.“
Wann habe ich mich in den letzten Jahren eigentlich mehr gefreut als jetzt, fragte sich Manfred, auch wenn die Bemerkung, wie er wusste, zugleich etwas von Abschied hatte. Denn am Mittag fuhr Ilonas Zug. Auch er musste bald die Rückfahrt in seinem Auto antreten.
Nur einen Moment empfanden es die beiden als anstrengend, dass keiner etwas sagte. Dann fanden sie das Stillschweigen völlig angebracht, denn Schweigen kann bekanntlich ein Zeichen des Gedenkens sein und nur ein eindimensionaler Mensch hätte jetzt meinen können, dass es an diesem Morgen, an dem sich der Tatbestand der baldigen Trennung über den Frühstückstisch von Ilona und Manfred legte, überhaupt nichts zu gedenken gab. Eigentlich konnte man gar nicht wissen, wo man anfangen sollte, wenn es um die Frage des Gedenkens geht – Manfreds Seele
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