Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Augenbinde runzelte die Stirn. „Das darf ja wohl nicht wahr sein! Es gibt doch sowas wie Verhältnismäßigkeit.“
„Der Rechtsbegriff ist weiträumig interpretierbar“, kam es vom Professor.
Kaum einer wunderte sich, als sich im Folgenden die Unterhaltung dem Ende neigte. Die Fragen von Interesse waren aufgeworfen worden und immer deutlicher war der Ernst der Situation geworden. Nach Plaudern war niemanden mehr zumute; Müdigkeit machte sich in der betagten Runde ebenso breit wie eine bemerkenswerte Vertrautheit angesichts dessen, dass sich längst nicht alle Anwesenden sehr gut kannten. Dem frisch servierten Kaffee folgte das Versprechen, miteinander in Kontakt zu bleiben, um bei Bedarf gemeinsam für Manfred die Unterstützung zu organisieren. Eine Mailingliste machte die Runde und es wurden Telefonnummern ausgetauscht. Keiner drückte Ilona nicht.
Und fast jeder Anwesende spürte nun, warum er heute zur Silberhochzeit eingeladen worden war – nicht nur Ilona hatte mit ihren Gefühlen gegenüber Manfred zu tun. Da passte es, dass sich irgendwann Aaron und Conny Arm in Arm nebeneinander setzten und sich ihrer gemeinsamen Geschichte erinnerten. Aaron Cat, bei dem Manfred so viele Jahre so oft als letzter Gast an der Theke gesessen hatte, wollte noch etwas sagen. „Je länger wir uns kannten, desto mehr hat Manfred mir erzählt.“ Aaron wartete kurz, bis ihm die Blicke der anderen zeigten, dass jeder auf eine Ausführung wartete. „Und auch von seiner Affäre 1972. Der Eros hatte die beiden erwischt. Die Weltsicht der Terroristen konnte Manfred dagegen nicht beeindrucken, sie stritten viel. Manfred war ihr gegenüber aber loyal. Bei einem Telefonat von ihr bekam er etwas mit, was er sich schwor, als Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Er sagte mir mal: ‚Die Geschichte des Terrorismus müsste umgeschrieben werden, wenn das rauskommt. Und die Geschichte der Politik auch.‘“
*
Ilona befürchtete das Schlimmste. Am nächsten Werktag kam es zum Gespräch von Manfreds Verteidiger mit der Haftrichterin und der Staatsanwältin. Der Anwalt war ein Bekannter der Familie und somit wussten Manfred und Ilona, dass er sich mal für seinen Beruf entschieden hatte, um einen, wie er es mal ausgedrückt hatte, „Katalysator für meine mitunter hohen Aggressionen, auch mal gegen alles und nichts, zu haben.“ Dass an dieser Selbsteinschätzung etwas dran sein musste, sollten Haftrichterin und Staatsanwältin bald selbst erfahren.
Freundlichkeiten mochte Manfreds Anwalt nur, wenn er sie auch meinte, also ließ er sie, als er zu dem vorgesehenen Termin im Gerichtsgebäude erschien. Der kurzen Begrüßung ohne Augenkontakt folgte ein „Nein, kommen wir zur Sache“, womit er Antwort auf die gar nicht erhobene, aber von ihm erwartete Frage der Haftrichterin gab, ob er einen Kaffee wünsche. Er roch nach Alkohol und er tat das gern. Ein undefinierbares Haarbündel auf dem Kopf brachte zum Ausdruck, dass ihn das Thema Friseur nicht interessiert. Er hatte einen Lutscher im Mund, denn er war Kettenraucher und hätte die Zeit ohne Glimmstängel sonst nicht überstanden. „Reaktionärer als die Karlsbader Beschlüsse“ hatte er mal die neuen Verordnungen genannt, die das Rauchen in öffentlichen Gebäuden kategorisch untersagten.
„Ich werde Ihr Vorgehen einem befreundeten Professor an der Uni darlegen, damit der sie in seinen Vorlesungen als Beispiel nehmen kann, wie man in einer Haftbegründung mehr juristische Fehler als Sätze produzieren kann.“ Der Anwalt legte seine Zigaretten auf den Tisch – er schien damit drohen zu wollen, jede Anti-Raucher-Verordnung zu ignorieren, wenn man hier seine Zeit verschwendet. „Welches Opfer hat mit welchem Politiker im Rücken um die Verhaftung angehalten? Los! Sagen Sie es mir.“
Seine beiden Gegenüber antworteten zwar nicht, ließen ihn jedoch gewähren, denn der Anwalt, den sie heute das erste Mal sahen, hatte mit seinem eigensinnigen Auftreten das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Außerdem kam er aus der Metropole Frankfurt am Main, einer Herkunft, die Haftrichterin wie Staatsanwältin, selber Kinder einer Landstadt, einen gewissen Respekt einflößte.
„Wo ist der dringende Tatverdacht? Was ist überhaupt die Tat? Etwa dass mein Mandant Fellatio mit einer Terroristin hatte?“ Geistesgegenwärtig legte der Anwalt den Lutscher auf die Zigarettenschachtel. „Sie haben keinen einzigen Beweis, dass Herr Manfred Semmler in den Terrorismus involviert war, sie
Weitere Kostenlose Bücher