Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
anderen aber, und das wog wesentlich schwerer, an den Gesprächen, die von dort aus geführt wurden: Schließlich kam hier als möglicher Gesprächspartner ausschließlich Ilona in Frage. Und Partnergespräche, deren Inhalt nach Möglichkeit ein Geheimnis bleiben sollen, kannten auch Ilona und Manfred zur Genüge.
Schon längere Zeit hatte Manfred, der gerade auf seiner Matratze alle Viere von sich streckte und darüber nachdachte, wie es wohl sein muss, wenn man ertrinkt, seine Frau nicht mehr über das Haustelefon angerufen. Fast ungläubig schreckte er auf, als der Apparat klingelte. Es brauchte ein drittes Bimmeln, bis er im Bilde war und den Hörer abnahm.
„Titanic“, sagte er.
„Tirpitz“, kam es mit kurzer Verzögerung zur Antwort. „Du willst mit mir Schiffe raten spielen, Schatz?“
„Scharnhorst.“
„Bismarck.“
Eine ganze Zeit ging es hin und her.
„Ich hatte mir gerade vorgestellt“, erklärte Manfred dann, „beim Untergang der Titanic dabei gewesen zu sein. Als Kellner. Eingeschlossen im Kühlraum. Von allen Seiten hörte ich den Todeskampf der Ertrinkenden. Ich selbst starb drei Tage später. Vollgefuttert, aber halt erfroren.“
„Das ist ja schaurig!“
„Ich muss dir zustimmen, denn der kostenlose Verzehr von exquisiten Lebensmitteln könnte aufgrund der doch eher mageren Zukunftsaussichten wohl nur wenig trösten... Ich werde auf jeden Fall versuchen, anders zu sterben.“
Eine Zeit fiel kein Wort. Klar war sowohl Manfred als auch Ilona, dass das Gespräch im Folgenden keine Leichtigkeit mehr haben würde.
„Das ist übertrieben“, sagte Ilona irgendwann. Sofort fand sie ihre Äußerung hilflos.
„Die Krankheit kann mich in einem Jahr verrecken lassen.“
„Das ist doch Quatsch, Manfred. Es ist alles gut verlaufen.“
Vor drei Monaten hatte Manfred die Diagnose Dickdarmkrebs bekommen. Stadium II; hier leben von den Patienten nach fünf Jahren noch circa 80 Prozent. Die Operation war gut verlaufen; Strahlen- und Chemotherapie wird in dieser Stufe der Krankheit nicht praktiziert. „Es besteht gute Aussicht auf Heilung, andererseits gibt es keine Garantie“, hatte der Chirurg gemeint. „Ihre Mentalität ist für den weiteren Verlauf wichtig. Jeder geht damit anders um“, schloss der Arzt sein kurzes Statement.
Manfred fragte sich alsbald, ob sein Umgang mit der Krankheit wirklich irgendetwas Besonderes besaß. Er hatte sich kurz und entschlossen medizinisch kundig gemacht, suchte und fand eine der Krankheit entsprechende Ernährung, was auch den Verzicht auf Genussmittel beinhaltete, und er bewegte sich viel. Ab und zu gönnte er sich eine Portion Selbstmitleid. Das jetzige Telefongespräch war in milder Form Zeuge davon geworden.
„Halten wir zusammen?“
„Auf jeden Fall!“, antwortete Ilona.
Diesen kurzen Dialog sprachen die Eheleute mehrmals am Tag, zuweilen sogar mehrmals die Stunde. Er war Ausdruck ihrer infolge der Krankheit neu abgestimmten Zweisamkeit, ein Spiel ihrer Seelen, das beruhigend auf beide wirkte.
Die erste Nachuntersuchung zeigte ein positives Bild. Mittlerweile fühlte sich Manfred wieder gut; oft kräftiger als vor der Diagnose, eine Folge, wie er glaubte, seiner wesentlich gesünderen Lebensweise.
„Treffen wir uns gleich auf der Terrasse zum Tee?“
„Auf jeden Fall!“
*
„Dann war es also richtig nett gewesen.“
Ilona goss sich und ihrem Mann eine weitere Tasse grünen Tee auf der Terrasse ein, bevor sie dazu etwas sagte. „Ich war ja noch bei dir in Untersuchungshaft und erst später dazugekommen, aber was ich erlebt hatte, war beeindruckend. Alle freuten sich, als der Vorschlag kam, eine E-Mail-Liste zu machen; jeder hatte zumindest einen in der Runde, den er ins Herz geschlossen hatte.“
„Kein Wunder, dass sich dann bei der nachgeholten Silberhochzeit wieder alle an einen Tisch setzten.“
„Und da verließ dann keiner vor Morgengrauen den Tisch. Keiner wollte ins Bett.“
„Zumindest nicht allein“, fügte Manfred schmunzelnd an und nahm einen Schluck von seinem Heißgetränk. „Was meinst du? Ob die Sympathien trotz des beeindruckenden Durchschnittsalters längst für verloschen gehaltene Energien freisetzten?“
Ilona lachte. „Es wäre jedem zu wünschen gewesen.“
Handelte es sich mit Möbeln aus dem Supermarkt um eine bundesdeutsche Durchschnittsterrasse, auf der das Ehepaar Semmler Tee und Kuchen genoss, so zeigte der kleine Garten ihres Einfamilienhauses ein besonderes Gesicht. Manfred
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