Wo die Liebe beginnt

Chicago.
    Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Spannung baut sich zwischen uns auf. Es ist aber keine nervöse Spannung, eher ein fast schon beruhigendes Prickeln. Als wüssten wir beide ganz genau, was der Zweck meines Besuchs ist und worüber wir uns bald unterhalten werden. Keiner von uns ist besonders in Eile. Wir haben so lange gewartet, da fallen ein paar Kilometer mehr nicht ins Gewicht. Wir fahren gemächlich dahin, und die Stimmung im Auto verändert sich mit den verschiedenen Songs aus dem Radio.
    Als wir bei der Ausfahrt Green Bay Road abfahren, sind wir schon fast zu Hause. Er räuspert sich. Jetzt ist es also so weit. Er wird von jenem Sommer reden. Über meine Entscheidung. Über unsere Besucherin aus St. Louis, die wir in wenigen Stunden erwarten. Aber er sagt nur: »Deine Mutter ist im Kochstress. Sie macht sich wie immer viel zu viel Arbeit. Sollen wir ihr noch ein bisschen mehr Zeit geben? Wir könnten doch das Richtungsspiel spielen … Es ist lange her, dass wir das gemacht haben.«
    Ich schaue ihn von der Seite an und erinnere mich an das Spiel, das wir erfunden haben, als ich etwa fünf oder sechs war. Wir stiegen ins Auto, ich schloss die Augen, und immer, wenn wir zu einer Kreuzung kamen, fragte er: rechts, links oder geradeaus? Dann entschied ich mich für eine Richtung. Manchmal wechselte ich ab, manchmal blieb ich auch immer bei derselben Richtung während des ganzen Spiels über.
    Links, rechts, links, geradeaus , verlangte ich, und er witzelte, dass wir in Guatemala oder Kanada rauskämen – was ich damals gar nicht so unwahrscheinlich fand. Spannend und gleichzeitig furchterregend war aber auch der Gedanke, dass wir uns total verfahren und nicht mehr nach Hause finden würden. Gestrandet am Ende der Welt, ohne Essen und Wasser, bei extremen Temperaturen. Natürlich wusste ich, dass so etwas nicht wirklich passieren konnte, dass wir nie weiter kamen als bis nach Naperville oder in ein anderes Vorstadtgebiet. Aber immer, wenn wir in einer Sackgasse angekommen waren und mein Vater mir sagte, ich könne die Augen wieder aufmachen, war ich ganz verzaubert von dem Ort, an den es uns verschlagen hatte, mochte es ein Gebrauchtwagenhändler, ein Optikerladen oder eine fremde Auffahrt gewesen sein. Die Zufälligkeit der Orte war aufregend, besonders wenn wir unser Spiel weiterführten und in die Geschäfte hineingingen, etwa um das kirschrote Audi-Cabrio anzuschauen oder Lesebrillen aufzuprobieren. Einmal haben wir sogar an einer fremden Haustür geklingelt und so getan, als würden wir nach unserem entlaufenen Hund suchen.
    Als ich etwas älter wurde und mich besser auskannte, blinzelte ich manchmal heimlich, und mein Vater tat so, als merkte er es nicht. Und wie durch ein Wunder endete unser Weg bei der Eisdiele oder dem Einkaufszentrum oder einem unserer Lieblingsparks. Dann sagten wir uns immer, dass wir wohl einen Glückstag erwischt haben mussten. Jetzt fällt mir auf, dass unser damaliges Spiel ganz ähnlich ablief wie das, was gerade im Auto vor sich geht: Beide spielen wir eine Rolle und wissen doch genau, dass der andere es weiß.
    Â»Ja, sehr gerne«, sage ich. »Ich bin bereit.«
    Â»Hast du die Augen geschlossen?«
    Â»Ja«, schwindele ich.
    Â»Na schön. Los geht’s. Links, rechts oder geradeaus?«
    Â»Rechts«, sage ich und versuche, seine Gedanken zu lesen. Wo möchte er gerne hinfahren? Ich entscheide mich für den Gillson Park als Ziel. »Auf jeden Fall nach rechts.«
    Dann dirigiere ich ihn von der Green Bay nach Osten zur Sheridan, der Straße, die die Vorstädte des Nordufers miteinander verbindet und sich idyllisch am See entlangschlängelt, vorbei an schönen Häusern, Bootsanlegern und kleinen Tälern – eine Landschaft wie aus einem John-Hughes-Film.
    Â»Geradeaus«, kommandiere ich, und wir fahren weiter nach Süden, durch das feine Winnetka und das verschlafene Kenilworth, bis wir an die Kreuzung Lake und Sheridan kommen.
    Â»Links«, sage ich und führe uns auf der Michigan Avenue dann sofort wieder nach rechts, und dann fahren wir schon durch das südliche Eingangstor des Parks.
    Â»Okay! Sackgasse!«, jubiliert mein Vater. »Du wirst nie erraten, wo wir sind.«
    Ich drehe mich zu ihm hin und spiele die Überraschte. »Ohhh! Wir sind im Gillson Park! Das ist ja nicht zu glauben!«
    Er schüttelt lachend den Kopf und steuert den