Wo die Liebe beginnt
Stammbäume sprachen. Ich hielt ein Referat über Irland, wie auch viele andere Kinder in der Klasse, und erklärte, dass die Vorfahren meines Vaters aus Galway, die meiner Mutter aus Cork kamen. Ich verstand natürlich, dass das nicht meine Vorfahren waren, und das sagte ich auch ganz offen. So ziemlich alle wussten nämlich, dass ich adoptiert war, denn mit den meisten Mitschülern der Klasse war ich schon im Kindergarten gewesen, und niemand fand etwas dabei. Es war bloà eine eher harmlose Eigenheit â so wie andere Kinder einen perfekten Radschlag konnten oder einen eineiigen Zwilling hatten.
Darum teilte ich meiner Klasse ganz lapidar mit, dass ich nichts über meine leibliche Mutter wusste, abgesehen davon, dass sie aus Chicago kam. Ich kannte ihren Namen nicht und hatte nie ein Foto von ihr gesehen, vermutete aber aufgrund meiner blonden Haare und blauen Augen, dass sie skandinavische Vorfahren hatte. Bald grenzte ich meine Vermutungen auf Dänemark ein, das klang irgendwie schön, und auÃerdem esse ich gerne Kopenhagener. Meine Klassenkameraden gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden, bis auf Gary Rusk, dieser Idiot. Er hob die Hand, wartete aber gar nicht ab, bis die Lehrerin ihn aufrief, sondern bombardierte mich gleich mit seinen Fragen: Ob ich wütend auf meine Mutter sei? Ob ich sie je aufspüren wolle? Ich stellte mir einen Kopfgeldjäger mit Gewehr und Bluthunden vor und tauschte einen Blick mit meiner besten Freundin Belinda Greene. Dann räusperte ich mich und erwiderte ruhig: »Ich habe schon eine Mutter. Und nein, ich bin auf niemanden wütend.«
Aber der Gedanke hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. Vielleicht sollte ich ja wirklich wütend sein. Andere Leute an meiner Stelle wären bestimmt wütend â Gary zumindest. Er war immer noch neugierig: »Könntest du sie denn finden, wenn du wolltest? Also, mit einem Detektiv oder so?«
»Nein. Ich weià ja nicht mal, wie sie heiÃt. Wie soll ich sie da finden?«, gab ich zurück und dachte an all die Frauen, die am 1. April 1996 in Chicago in meinem Krankenhaus ein Kind bekommen hatten.
Als ich fertig war, setzte ich mich wieder hin, und Debbie Talierco ging nach vorne, um über ihre italienischen Vorfahren zu berichten. Aber den Rest der Stunde und den ganzen restlichen Schultag über bekam ich den Gedanken an meine leibliche Mutter nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte nicht das Bedürfnis, sie zu suchen, aber ich fragte mich, ob ich sie finden könnte, wenn ich wollte.
Beim Abendessen redeten wir nur über den neuen Welpen der Gallaghers, der im Spiel immer nach dem jüngsten Kind der Familie schnappte â man musste dem Hund einfach zeigen, wer das Sagen hatte. Währenddessen dachte ich weiter über Garys Frage nach. Mir war klar, dass meine Eltern (besonders meine Mutter) nicht unbedingt darüber reden wollten. Zwar brachten sie das Adoptionsthema manchmal zur Sprache, aber nur um zu betonen, dass ihre Gebete erhört worden waren. Es wäre eine ganz andere Sache, wenn ich plötzlich etwas über meine leibliche Mutter fragen würde.
»Warum haben sie sich überhaupt einen Yorkshire Terrier angeschafft? Sie hätten lieber einen Hund aus dem Tierheim holen sollen«, meinte Charlotte, die Hundeliebhaberin. »Dann hätten sie wenigstens ein Tier gerettet.«
Auf einmal fühlte ich mich selbst wie ein geretteter Hund â wie die letzte Promenadenmischung. Ich schüttete SteaksoÃe auf meine Koteletts. Das hatte ich mir von meinem Vater abgeguckt, der die SoÃe zu allem isst, sogar zu Rührei.
»Heute habe ich ein Referat über meine Vorfahren gehalten«, begann ich. »Und da kam das Thema ⦠hm ⦠meiner Adoption auf.«
Meine Mom starrte mich an. Sie kaute, schluckte, wartete.
»Na ja, und da habe ich mich gefragt ⦠ob ich wohl meine leibliche Mutter irgendwie finden könnte. Wenn ich wollte. Ich meine, wissen wir, wie sie heiÃt?«
Ich merkte sofort, dass die Frage ein Fehler gewesen war. Die Anspannung war mit Händen greifbar, und meine Mom blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten. Tränen! Bloà wegen einer blöden Frage. Meine Schwester blickte schuldbewusst auf ihren Teller, und mein Dad setzte seinen moralisierenden Blick auf, den gleichen wie damals, als er mir und meiner Schwester den »Hände weg von Drogen«-Vortrag gehalten hatte. Anstatt einfach
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