Wo die Liebe beginnt
stand und zusah, wie die Bretter für sein neuestes Gartenprojekt vermessen und zugeschnitten wurden. All die Abende beim Mathelernen, wenn er die Lesebrille auf die Nase geschoben und einen konzentrierten Blick aufgesetzt hatte; wenn er mir den besten Lösungsweg erklärte, mit Zahlen, die wie gestochen aussahen. Unsere gemeinsamen Fernsehnachmittage mit unseren Lieblingssendungen: alles von Murphy Brown über Verrückt nach Dir bis zu Die besten Jahre â während meine Mutter nie lange genug stillsitzen konnte, um uns Gesellschaft zu leisten. Die endlosen Sommerstunden mit Büchern auf der Veranda unseres Hauses am See; er saà auf einem groÃen weiÃen Schaukelstuhl und ich auf einem kleinen.
Ich dachte an seine typischen Sprüche: »Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance«, oder: »Der Sinn des Lebens ist ein Leben mit Sinn«, oder: »Wer den Erfolg nicht plant, plant den Misserfolg«. Ich dachte an die Hingabe, mit der er alles im Leben tat: den Weihnachtsbaum schmücken, Kürbislaternen schnitzen, Sandwiches schmieren. Ich habe mir immer vorgestellt, wie er seine Argumente vor Gericht vorbringt; dann dachte ich voller Stolz und ein bisschen traurig, dass ich nie einen so klugen oder gut aussehenden oder tollen Mann finden würde, wenn ich groà war. Vielleicht denken ja alle jungen Mädchen so über ihren Daddy â aber ich hatte recht, was meinen betraf.
»Versprich mir, dass du ihm nichts erzählst«, bat ich. »Egal, wofür wir uns entscheiden.«
Meine Mutter nickte und streckte mir ihre Hand hin. Dann verhakten wir unsere kleinen Finger ineinander â das hatten wir schon seit Jahren nicht mehr getan. Und so besiegelten wir unser Geheimnis.
Während der folgenden zwei Wochen schwankte ich zwischen Unentschiedenheit, Wut, Angst und Schuldgefühlen. Zusätzlich fühlte ich mich noch furchtbar einsam, weil ich mich von Janie und meinen anderen Freundinnen entfremdet hatte. Die wollten auch nichts mehr von mir wissen, nachdem ich sie über so viele Wochen hinweg einfach ignoriert hatte. Dieses Gefühl der Isolation würde noch viel stärker werden, wenn ich mich für das Kind entschied. Und dann war da noch mein gebrochenes Herz wegen Conrad. Ich vermisste ihn sehr â wie konnte man sich nur so nach einem Menschen sehnen? Er rief ein paarmal an, und meine Mutter richtete mir seine Botschaften auch aus, aber ich antwortete nie, weil ich hoffte, dass ein radikaler Entzug es einfacher machen würde â für mich und auch für ihn. Irgendwie erschien mir das wie die Strafe, die wir beide verdienten, weil wir uns benommen hatten wie liebeskranke Teenager , während das Leben in mir wuchs, die Zellen sich vervielfältigten, ein kleines Herz entstand. Abgesehen davon konnte ich ihn wohl kaum anrufen, wenn ich nicht vorhatte, ihn an der Entscheidung zu beteiligen. Egal, was er zu sagen hatte oder wie er es sagen würde, ich war mir sicher, dass ich noch mehr leiden würde, wenn ich mich mit ihm darüber unterhielt.
Als wäre das alles noch nicht genug gewesen, litt ich unter extremer Ãbelkeit: morgens, mittags, abends. Es war ein bisschen wie Achterbahnfahren mit Kater. Die meiste Zeit verbrachte ich allein in meinem Zimmer, mit einem Eimer neben dem Bett, falls ich es nicht mehr bis ins Bad schaffte. Ich hörte Musik, blätterte durch mein Jahrbuch und wünschte mir, ich könnte zum Anfang des Schuljahres zurückreisen â oder wenigstens zum Anfang des Sommers, zurück in eine einfachere, glücklichere, unschuldige Zeit, die inzwischen tausend Jahre vorbei zu sein schien. Ein paarmal klopfte meine Mutter an die Tür und brachte mir Salzgebäck oder setzte sich auf meine Bettkante und strich mir übers Haar. Manchmal unterhielten wir uns über meine Situation, aber meistens ging es mir zu schlecht dazu. Ich konnte nicht klar denken, und mein Herz war voller Angst, dass ich â egal, wofür ich mich auch entschied â es mein Leben lang bereuen würde.
Eines Morgens, nachdem ich dreimal gekotzt hatte, traf ich eine Entscheidung. Meine Eltern waren in der Küche. Mein Vater war gerade im Begriff joggen zu gehen, meine Mutter trank Kaffee. Sie trug den rosafarbenen Morgenrock, den ich ihr zum Muttertag geschenkt hatte.
»Morgen, Kleines«, sagte mein Vater und dehnte seine langen Beine. Ein bisschen erinnerte er mich noch an den Tennisstar, der
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