Wo die Liebe beginnt
freundliches Büro voller Kinderzeichnungen und Fotos von flachsblonden Zwillingen. Hinter einem extrem aufgeräumten Schreibtisch saà eine zierliche, blonde Sozialarbeiterin namens Megan, die vermutlich die Mutter der Zwillinge war. Sie lächelte uns an und versuchte es mit belanglosem Smalltalk, bevor sie uns die »Optionen« erklärte, die mir im Grunde schon klar waren. Ich konnte die Schwangerschaft beenden. Ich konnte das Kind auf die Welt bringen und alleinerziehende Mutter werden. Oder ich konnte das Kind mit Hilfe und Unterstützung des Vaters aufziehen. Wir konnten uns als Paar um das Kind kümmern. Vielleicht würden unsere Eltern oder andere Verwandte ja auch helfen. Oder ich konnte das Baby bekommen und zur Adoption freigeben â was wiederum Entscheidungen nach sich zog, die sie jederzeit gerne mit mir erörtern würde. »Du hast über einiges nachzudenken, SüÃe«, sagte sie.
Meine Mutter dankte ihr in meinem Namen.
»Hast du noch irgendwelche Fragen?«, wollte Megan wissen.
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich gerne noch etwas gesagt hätte, nur fürs Protokoll. Ich wollte Megan erklären, dass ich intelligenter und vernünftiger war als all die anderen Mädchen, die sie in dieser schwierigen Lage schon beraten hatte. Dass ich nicht »diese Art« Mädchen war. Dass alle anderen geschwindelt hatten, wenn sie behaupteten, verhütet zu haben, nur ich nicht. Dass ich nie, nicht mal eine Sekunde lang gedankenlos gehandelt hatte, weil es ja die Möglichkeit zur Abtreibung gab. Dass mir meine Optionen klar waren, und dass ich mir trotzdem nicht vorstellen konnte, ein Kind auf die Welt zu bringen, genauso wenig wie ein Kind abzutreiben oder ein Kind wegzugeben.
Aber natürlich sagte ich nichts davon, als Megan mir ihre Visitenkarte und die Broschüre einer Abtreibungsklinik überreichte. Meine Mutter nahm mir beides aus der Hand, lieà es in ihre Handtasche gleiten und versicherte Megan, wir würden uns wieder bei ihr melden.
»Was soll ich nur machen?«, fragte ich meine Mutter auf dem Nachhauseweg.
Sie hielt die Augen auf die StraÃe gerichtet und erklärte, das sei meine Entscheidung.
»Mom, sag mir, was ich machen soll.«
Sie atmete tief durch. Dann erklärte sie mir, ich sei schön, begabt, etwas Besonderes. Die Sonne ihres Lebens. Und dass jedes Kind von mir ganz genau so wunderbar und besonders sei. Sie würde mir dabei helfen, das Baby aufzuziehen â sie würde es sogar ganz allein schaffen, wenn das nötig wäre, wenn es das sei, was ich wollte. Dann kam sie auf das Thema Adoption zu sprechen. Sie nannte diese Möglichkeit edel, das Höchstmaà an Selbstlosigkeit. Sie hätte immer groÃen Respekt für Frauen und Mädchen empfunden, die sich dafür entschieden. Sie sagte auch, es sei hart, das alles durchzuziehen und das Baby wegzugeben, aber ich würde mein ganzes Leben lang in dem Bewusstsein verbringen, jemand anderem das wertvollste Geschenk überhaupt gemacht zu haben.
»Aber wenn ich das Baby bekomme, was ist dann mit dem College?«, fragte ich.
»Wir könnten das im Sekretariat alles erklären â¦Â«
Entschieden schüttelte ich den Kopf. Alles war noch ganz theoretisch, aber ich wollte eigentlich nicht, dass irgendjemand in Michigan davon erfuhr. Oder sonst jemand. Und das sagte ich ihr.
»Marian, das ist nichts, wofür du dich schämen müsstest«, betonte meine Mutter, aber da merkte ich zum ersten Mal während unserer Unterhaltung, dass sie nicht aufrichtig war. Selbst sie konnte das Stigma, mit dem eine minderjährige Schwangere behaftet war, nicht wegdiskutieren.
»Aber ich will es niemandem erzählen. Niemals. Schon gar nicht Daddy«, sagte ich. Es war schlimm genug, meine Mutter zu enttäuschen, aber meinem Vater gegenüber war es noch viel schlimmer, denn ihn mochte ich insgeheim lieber. Ich betete ihn an und eiferte ihm nach, ich wollte, dass er stolz auf mich war, mehr als alles andere. Ich liebte ihn ganz einfach.
Ich starrte aus dem Fenster, während die vertraute Landschaft meiner Heimatstadt an mir vorüberzog. So viele Kindheitserinnerungen an meinen Vater stiegen in mir auf. Die kalten Herbstsamstage beim Football in Ann Arbor, als wir die Wolverines so laut anfeuerten, dass wir auf der Heimfahrt nach Chicago total heiser waren. Der Geruch von frisch gesägtem Holz im Baumarkt, als ich neben ihm
Weitere Kostenlose Bücher