Wo die Liebe beginnt
er im College gewesen war. An diesem Morgen war sein Haar noch dunkel gewesen, nur an den Schläfen leicht ergraut, und ich dachte, wenn er es wüsste, würden seine Haare überall weià werden.
»Morgen«, murmelte ich. Seit Tagen hatte ich meinem Vater nicht mehr in die Augen gesehen.
»Ich habe einen Brief von meinem Geschichtsprofessor aus Michigan bekommen. Er heiÃt Barfield, Thomas Barfield. Ein brillanter Mensch. Er unterrichtet noch immer«, berichtete mein Vater.
»Der muss doch uralt sein«, lächelte ich gezwungen.
Mein Dad lachte. »Ja, so wie dein alter Herr.« Er biss von einem Energieriegel ab, von dessen Anblick mir schon wieder schlecht wurde. »Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass du kommst. Er soll ein bisschen auf dich aufpassen. Er wäre ein groÃartiger Mentor für dich. Vielleicht könntest du sogar studentische Hilfskraft bei ihm werden. Das wäre eine tolle Erfahrung für dich. Du musst auf jeden Fall bei ihm vorbeigehen und dich vorstellen.«
»Okay«, erwiderte ich, darauf konzentriert, mich nicht schon wieder zu übergeben.
Einen Augenblick später, als er zur Tür hinaus war, sah ich meine Mutter an und erklärte: »Ich will, dass es verschwindet.«
»Okay, Schatz«, sagte sie und wirkte erleichtert.
»Ich will, dass es aus mir verschwindet. So bald wie möglich.«
»Ich rufe gleich an. Wir vereinbaren sofort einen Termin für dich.«
»Mache ich das Richtige?«, fragte ich.
»Ich glaube schon«, sagte sie und umarmte mich. »Das glaube ich wirklich.«
Drei schreckliche Tage musste ich auf diesen Dienstag warten. Es waren noch zwei Wochen bis zum College-Beginn. Leider war es auch einer der seltenen Tage, an denen mein Vater sich frei nahm, und darum war ich ziemlich bestürzt, als ich ihn in Jeans und Polohemd herumhantieren und seine To-do-Liste für den Haushalt abarbeiten sah. Meine Mutter und ich mussten so tun, als würden wir zusammen in die Stadt gehen, um neue Kleider für mich zu kaufen. Mein Vater machte auch noch Witze darüber, dass er lieber arbeiten gehen sollte, um das nötige Geld dafür zu verdienen, das meine Mutter und ich bei Saks sicher ausgeben würden. Er bemerkte nicht, dass ich bloà lockere Joggingsachen trug, kein Make-up aufgelegt und mir das Haar nur lose hochgesteckt hatte. Ich schaute auf den Boden, bis es Zeit war zu gehen. AuÃer gelegentlichen Anfällen von Panik fühlte ich gar nichts mehr.
Endlich stiegen wir ins Auto und fuhren los zu der Klinik an der North Elton. Im Kopf sah ich immer wieder die Fotos aus der Broschüre vor mir: das propere, rehäugige junge Mädchen mit der ordentlichen Bobfrisur und das Heer von Ãrzten und Krankenschwestern mit den fürsorglich-ernsten Mienen.
Wir sprachen kein Wort. Nur einmal fragte meine Mutter, ob ich Musik hören wollte, und hielt ihre ABBA-CD hoch. Die mochten wir beide gern, darum nickte ich. »Dancing Queen« und »Voulez-Vous« würden mich vielleicht ein bisschen ablenken. Ein paar Songs lang funktionierte das auch: Die bekannten Texte und die klaren Stimmen hypnotisierten mich beinahe, aber als die ersten bittersüÃen Takte von »Chiquitita« erklangen, musste ich die Tränen zurückhalten. Ich musste daran denken, wie ich früher immer gedacht hatte, das Lied handle von Bananen, und wie meine Mutter darüber gelacht und mir erklärt hatte, dass »Chiquitita« spanisch sei und »kleines Mädchen« bedeute. Dass ich ihre Chiquitita sei und immer bleiben werde. Die Musik hüllte mich ein. Sie wirkte gleichzeitig beruhigend und traurig auf mich.
Ich blickte zu meiner Mutter, die das Steuerrad umklammerte, und erkannte trotz ihrer übergroÃen Sonnenbrille, dass das Lied auch sie berührte. Aus dem Fenster sah ich die ersten Ausläufer der Stadt und sagte mir, dass alles bald vorbei wäre. In ein paar Wochen würde ich aufs College gehen, wo ich viel lernen würde, aus Büchern und von anderen Leuten, und dann würde aus mir eine richtige Erwachsene mit einem echten Beruf werden. Irgendwann würde ich mich wieder verlieben und heiraten. Mein Mann und ich würden die ersten Jahre alleine genieÃen und danach unser erstes Kind planen. Wir würden alles richtig machen. Geradezu perfekt. Ich würde meine Eltern anrufen und ihnen die frohe Botschaft überbringen â vielleicht würde ich es
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