Wo die Nacht beginnt
Einen Arm um mein Knie geschlungen, den anderen um meine Hüfte gelegt, sodass er mit der Hand den Pulsschlag in meiner Leiste spürte, ließ er unter einem zufriedenen Seufzen den Kopf auf meinen Bauch sinken, als wäre ich ein Kissen. In der völligen Stille lauschte er auf das leise Rauschen des Blutes, das unser Kind am Leben erhielt. Als er es hörte, legte er den Kopf schief, und unsere Blicke trafen sich. Mit einem strahlenden, glücklichen Lächeln widmete er sich wieder seiner Nachtwache.
In der von Kerzen beschienenen Dunkelheit des Weihnachtsmorgens spürte ich die stille Kraft, die wir daraus gewannen, dass wir unsere Liebe mit einem weiteren Leben teilten. Inzwischen bewegte ich mich nicht mehr wie ein Meteor mutterseelenallein durch Raum und Zeit, sondern war Teil eines komplexen Planetensystems. Ich musste lernen, mein Gravitationszentrum zu bewahren, auch wenn mich Himmelskörper, die größer und mächtiger waren als ich, hierhin und dahin zerrten. Andernfalls würden Matthew, die de Clermonts, unser Kind – und die Kongregation – mich womöglich aus meiner Umlaufbahn schleudern.
Mir war nur wenig Zeit mit meiner Mutter vergönnt gewesen, trotzdem hatte sie mir in diesen sieben Jahren vieles beigebracht. Ich erinnerte mich immer noch an ihre bedingungslose Liebe, an die Umarmungen, die ganze Tage einzuschließen schienen, und daran, dass sie immer genau dort war, wo ich sie brauchte. Es war so, wie Matthew sagte: Kinder brauchten Liebe, zuverlässigen Trost und einen Erwachsenen, der sich für sie verantwortlich fühlt.
Es war an der Zeit, dass ich unseren Aufenthalt hier nicht länger als ausgedehntes Seminar über das England Shakespeares betrachtete, sondern als meine letzte und beste Möglichkeit herauszufinden, wer ich war, damit ich meinem Kind helfen konnte, seinen Platz in der Welt einzunehmen.
Aber erst musste ich eine Hexe finden.
16
W ir verbrachten das Wochenende in freundlicher Stille, freuten uns an unserem Geheimnis und ergingen uns wie alle zukünftigen Eltern in Tagträumen. Ob das neueste Mitglied im Klan der de Clermonts wohl schwarzes Haar wie sein Vater haben würde und dazu meine blauen Augen? Würde es sich eher für Naturwissenschaften oder für Geschichte interessieren? Würde es geschickt sein wie Matthew oder tollpatschig wie ich? Was das Geschlecht betraf, waren wir verschiedener Meinung. Ich war überzeugt, dass es ein Junge war, und Matthew war genauso sicher, dass wir ein Mädchen bekommen würden.
Erschöpft und überglücklich legten wir schließlich eine Pause bei unseren Zukunftsplanungen ein, um vom warmen Zimmer aus einen Blick auf das London des 16. Jahrhunderts zu werfen. Wir begannen mit den Fenstern zur Water Lane, wo ich in der Ferne die Türme von Westminster Abbey ausmachte, und endeten auf zwei ans Schlafzimmerfenster gezogenen Stühlen, von wo aus wir die Themse sehen konnten. Weder die Kälte noch die Tatsache, dass wir den ersten Weihnachtstag feierten, hielten die Männer am Wasser davon ab, ihre Lieferungen zuzustellen oder Passagiere über den Fluss zu setzen. Am unteren Ende unserer Straße kauerte eine Gruppe von Lohnruderern auf den Stufen zum Wasser, während ihre leeren Boote auf den Wellen schaukelten.
Am Nachmittag schilderte mir Matthew, während die Flut kam und wieder ging, seine Erinnerungen an London. Er erzählte mir von jenem Winter im 15. Jahrhundert, in dem die Themse drei Monate lang zugefroren war – so lange, dass auf dem Eis Verkaufsstände aufgebaut wurden, um die Fußgänger auf dem Fluss zu versorgen. Er schilderte mir auch seine unproduktiven Jahre im Thavies Inn, wo er zum Schein zum vierten und letzten Mal Jura studiert hatte.
»Ich bin froh, dass du es noch zu sehen bekommen hast, bevor wir zurückkehren«, sagte er und drückte meine Hand. Allmählich entzündeten die Menschen ihre Lampen, hängten sie an den Bug ihrer Boote oder stellten sie in die Fenster der Wohn- und Wirtshäuser. »Wir könnten sogar versuchen, vor unserer Abreise einen Besuch in der Royal Exchange einzuschieben.«
»Wir fahren nach Woodstock zurück?«, fragte ich verwirrt.
»Nur für kurz. Danach kehren wir heim in unsere Gegenwart.«
Sprachlos vor Erstaunen starrte ich ihn an.
»Wir wissen nicht, was uns während der Schwangerschaft erwartet, darum sollten wir das Kind zu deiner – und seiner – Sicherheit medizinisch überwachen. Wir müssen ein paar Tests vornehmen, und wir sollten einen Ultraschall machen. Außerdem möchtest
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