Wo die Nacht beginnt
schwarzer Schössling spross aus dem Boden. Hufe donnerten auf mich zu. Jemand stieß einen hohen, gellenden Schrei aus, der Bilder von uralten Schlachten heraufbeschwor. Bei diesem Laut wurde die Feuerdrachin noch unruhiger. Ich musste mich befreien. Schnell.
Statt die Stränge zu suchen, die zu Kit und Louisa führten, konzentrierte ich mich auf diejenigen, die sich durch die Seile an meinen Hand- und Fußgelenken zogen. Ich hatte gerade die ersten kleinen Fortschritte gemacht, als etwas Scharfes und Schweres an meinen Rippen zersplitterte. Mir blieb die Luft weg.
»Getroffen!«, jubelte Kit. »Die Hexe gehört mir!«
»Du bist abgerutscht«, korrigierte Louisa. »Du musst die Lanze in ihrem Leib versenken, wenn sie dir gehören soll.«
Zu schade, dass ich die Regeln nicht kannte – weder die des Turnierkampfes noch die der Hexerei. Goody Alsop hatte daran keinen Zweifel gelassen, bevor wir nach Prag aufgebrochen waren: Bis jetzt habt Ihr nicht mehr als eine eigensinnige Feuerdrachin, einen Glaem, der einen fast blendet, und das Talent, Fragen zu stellen, die unerwünschte Antworten zur Folge haben, hatte sie gesagt. Ich hatte das Weben vernachlässigt, um stattdessen höfische Intrigen zu spinnen, und ich hatte die Suche nach meinen magischen Fähigkeiten aufgegeben, um Ashmole 782 nachzujagen. Wenn ich in London geblieben wäre, hätte ich jetzt vielleicht gewusst, wie ich mich aus dieser vertrackten Situation befreien konnte. Stattdessen stand ich an einen dicken Pfahl gefesselt wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen.
Überlege. Und überlebe.
»Wir müssen es noch mal versuchen«, sagte Louisa. Ihre Worte wurden leiser, als sie ihr Pferd wendete und davonritt.
»Tut das nicht, Kit«, sagte ich. »Ihr wisst doch, was Ihr Matthew damit antut. Wenn Ihr wollt, dass ich verschwinde, dann verschwinde ich, das verspreche ich Euch.«
»Deine Versprechen gelten nichts, Hexe. Du wirst heimlich einen Gegenschwur leisten und dich irgendwie aus deinen Zusicherungen herauswinden. Selbst jetzt versuchst du deine Magie gegen mich zum Einsatz zu bringen, das sehe ich an deinem Glaem. «
Einen Glaem, der beinahe blendet. Fragen, die unerwünschte Antworten nach sich ziehen. Und eine eigensinnige Feuerdrachin.
Was sollen wir tun?, fragte ich die Feuerdrachin .
Ihre Antwort war ein kräftiger Flügelschlag, mit dem sie beide Schwingen ausbreitete. Sie glitten zwischen meinen Rippen hindurch, schoben sich durch das Fleisch und traten beiderseits meiner Wirbelsäule aus meinem Rücken. Die Feuerdrachin blieb, wo sie war, den Schweif schützend um meinen Unterleib geschwungen. Sie spähte hinter meinem Brustbein hervor, mit klaren, silber-schwarzen Augen, und schlug noch einmal mit den Schwingen.
Überleben, hauchte sie statt einer Antwort, und bei ihren Worten stieg um mich herum eine graue Nebelwolke in die Luft auf.
Mit ihrem kräftigen Flügelschlag brach sie den dicken Pfahl entzwei, an den ich gefesselt war, und die Widerhaken ihrer gezahnten Rückenstacheln durchschnitten das Seil, das meine Hände band. Etwas Scharfes, Krallenartiges durchtrennte auch die Fesseln um meine Füße. Gerade als Kit und Louisa in die alles verhüllende graue Wolke hineinritten, stieg ich zehn Meter hoch in die Luft. Beide waren viel zu schnell, um noch anhalten oder die Richtung ändern zu können. Ihre Lanzen kreuzten und verhakten sich, und die Wucht des Aufpralls hob sie aus dem Sattel und ließ sie auf die harte Erde fallen.
Ich riss mir mit der unverletzten Hand die Binde von den Augen und sah im selben Moment Annie auf den Turnierplatz treten.
»Mistress!«, rief sie. Aber ich konnte nicht zulassen, dass sie hier in der Nähe von Louisa de Clermont blieb.
»Verschwinde!«, zischte ich, über Kit und Louisa kreisend. Augenblicklich verwandelten sich meine Worte in Feuer und Rauch.
Blut tropfte von meinen Handgelenken und von meinen Füßen. Wo eine der roten Perlen landete, wuchs sofort ein schwarzer Spross. Bald umgab eine Palisade schlanker, schwarzer Stämme den benommenen Dämon und die Vampirin. Louisa versuchte sie aus dem Boden zu reißen, aber meine Magie hatte Bestand.
»Soll ich Euch die Zukunft weissagen?«, fragte ich grob. Beide starrten mit großen, angstgeweiteten Augen aus ihrem Gefängnis zu mir auf. »Ihr werdet nie bekommen, was Euer Herz begehrt, Kit. Und Ihr werdet nie die Leere in Eurem Inneren füllen, Louisa – weder mit Blut noch mit Zorn. Und Ihr werdet beide sterben, weil der Tod uns früher oder
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