Wo die toten Kinder leben (German Edition)
von dir erwarten, dass du die alten Schuluniformen aufträgst.“
Obwohl ich mich innerlich ausgebrannt und leer fühlte, musste ich lächeln. „Ich bin mir sicher, alles ist perfekt.“
Auch er schenkte mir ein Lächeln und Satorius machte eine kleine Bewegung mit seiner Hand. Es war wie ein Winken. „Schlaf gut, Anne“, sagte er. „Bis nachher.“
Ich verließ den Wintergarten, durchquerte den Flur und ging die Treppe hinauf. Bald war ich in dem Zimmer, das mir nach so kurzer Zeit schon fast vertrauter vorkam, als meine eigene Wohnung.
Ich nahm die Pistole aus dem Holster und legte sie unter das Kopfkissen. Ich tat das aus purer Gewohnheit – nicht wie sonst, um darauf vorbereitet zu sein, falls mich jemand im Schlaf angreifen würde. Denn hier, in diesem Haus, fühlte ich mich geborgen.
Hier war ich unter Freunden.
35
N achmittags begleitete mich Paul zur Polizei. Die Beamtin an der Pforte und ich kannten uns. Sie telefonierte mit Ralf, meinem früheren Kollegen, um uns anzukündigen. Mit den Worten „Du kennst dich aus“, betätigte sie den automatischen Türöffner und ließ uns allein passieren.
Gemeinsam stiegen Paul und ich die Treppen empor, die zu dem Büro führten, in dem ich früher gearbeitet hatte. Ich hakte mich bei Paul unter, mit dem Vorwand, ihn zu stützen. Aber der eigentliche Grund war, dass mir seine Nähe den Rückhalt bot, den ich gerade dringend brauchte. Erst kurz vor Ralfs Büro ließ ich ihn notgedrungen los.
Ralf schaute auf, als er mich eintreten sah. Mit einer gewissen Zufriedenheit, in die sich auch eine seltsame Erleichterung mischte, las ich aus seinem Gesichtsausdruck, dass er mich im Gegensatz zu meinem ersten Besuch vor ein paar Tagen nun nicht mehr als Ausgestoßene wahrzunehmen schien.
„Du bist ja jetzt häufiger da, als zu deiner aktiven Zeit“, meinte er flapsig, um zu verstummen, als Paul nach mir den Raum betrat. Fragend richtete sich sein Blick auf meinen Begleiter.
„Das ist Paul Wagner“, sagte ich. „Wir arbeiten zusammen.“
„Aber er ist doch…“, Ralf verstummte.
„Ja. Herr Wagner ist vom Dekanat und das ist sozusagen der Auftraggeber meines aktuellen Falles.“
Ralf blickte zuerst mich, dann Paul skeptisch an, bevor er antwortete. „Ach so. Na dann nehmt doch beide Platz. Was führt dich heute zu mir?“
„Die Pädophilen“, sagte ich.
„Ich dachte, du untersuchst zurzeit Selbstmorde?“ Ralf runzelte die Stirn.
„Das schon, aber ganz zufällig bin ich dabei noch über ein paar weitere Hinweise gestolpert.“
„Wir haben den Verdächtigen verhaften lassen.“
„Das wissen wir. Wir haben ihn in der U-Haft besucht.“
Ralf musterte sowohl mich, als auch Paul mit kaum verhohlenem Interesse. „Anne, ich kenne dich. Wenn du ermittelst, machst du niemals etwas grundlos. Warum bist du heute hier, wenn ihr ohnehin auf dem Laufenden seid?“
„Ich gehe davon aus, dass ihr den Kaplan verhört habt“, setzte ich an.
Ralf ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten sinken. „Selbstverständlich“, meinte er einsilbig.
„Hat er euch seine Mittäter genannt?“
„Was denn für Mittäter?“ Ralf beugte sich zögernd nach vorne.
„Du hast dir doch die Fotos angeschaut. Bei einigen ist eindeutig festzustellen, dass eine zweite Person den Finger auf dem Auslöser hatte.“
Ralf ließ seine Zurückhaltung fallen. „Das stimmt. Das ist meistens so in diesen Fällen. Oft sind es Gruppen, die sich auf diese Weise – wie soll ich sagen - … betätigen .“
„Ja“, sagte ich. „Ganze Gruppen.“
Ich legte meinen Block auf den Tisch und fragte erneut. „Hat euch dieser Wittgen seine Mittäter genannt?“
Ralf schnaubte frustriert. „Der schweigt eisern. Und wenn man ihn zu sehr in die Enge drängt, beginnt er zu beten.“ Ralf wandte sich an Paul: „Nichts für ungut, Hochwürden. Aber es ist nun mal eine Tatsache. Wittgen flüchtet sich in irgendwelche theologischen Rechtfertigungen. Er behauptet, er sei unschuldig und sei nur wegen seiner Religion und seines Glaubens verfolgt. Und wenn man nachhakt, beginnt er, das Ave Maria zu rezitieren – ausgerechnet der!“ Ralf merkte, dass er uns, als Außenstehende, gerade vermutlich zu viele Informationen preis gab und fing sich wieder ein. „…Andererseits ist das sein gutes Recht“, beendete er etwas lahm.
Paul verzog seinen Mund. „Ich möchte einmal wissen, zu wem er da betet. Aber das ist eine andere Frage.“
Ralf räusperte sich und wandte sich wieder mir zu. „Warum bist du hier?“,
Weitere Kostenlose Bücher