Wo die toten Kinder leben (German Edition)
Unfall. Ich bin gestoßen worden.“
„Ich habe mit dem Gefängnis telefoniert. Sie waren mit einem Aufseher allein auf der steinernen Haupttreppe unterwegs und sind ausgerutscht. Die Überwachungskameras haben alles aufgezeichnet.“
„Ha! Und das glauben Sie? Gestoßen haben die mich. Die wollten mich umbringen, weil sie mich für einen Verbrecher halten.“ Aus Wittgens Mund drang eine Art Röcheln, das schnell in ein Husten überging. Dann bebte sein gesamter Körper. Er schlug auf das Krankenbett und das stählerne Gestell quietschte bedrohlich. „Aber ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Gar nichts!“
„Und die Kinder?“, warf Paul ein.
„Das waren keine Verbrechen.“
„Was waren das für Kinder, an denen Sie sich vergangen haben?“, fragte ich.
Wittgen warf mir einen Blick zu, in dem sich grenzenlose Abscheu spiegelte. Sofort richtete er seine gesamte Aufmerksamkeit wieder auf Paul. „Was will diese blöde Schlampe hier?“
Paul Miene zeigte keinerlei Gefühlsregung. „Sie wollten, dass ich komme. Und ich bin hier – aber nur solange sie auch hier ist. Das ist meine Bedingung.“
Wittgen schien innerlich mit sich zu debattieren. „Wenn es denn unbedingt sein muss…“, antwortete er schließlich.
„Sie haben die Frage von Frau Steinbach noch nicht beantwortet. Wo hatten Sie die Kinder her?“
„Die ersten Knaben kamen aus meinem Sportverein. Diese Jungs waren wirklich ungezogene Flegel. Die flehten geradezu darum, zurechtgewiesen zu werden.“ Die Stimme Wittgens war kratzig wie Schleifpapier. „Aber natürlich musste ich mich da zurückhalten. Wenn ich dort zu …“ – er suchte nach den richtigen Worten – „wenn ich dort zu intensiv aufgetreten wäre, hätten sie wahrscheinlich bei ihren Eltern gepetzt. Also… - nein. Aber ich habe meine Verbindungen. Verbindungen über die Grenzen. Nach Tschechien. Zu Waisenheimen. Und die Kinder dort…“, wieder glitt über das Gesicht Wittgens dieser erschreckende Ausdruck, den er für ein Lächeln hielt, „diese Kinder sind von Grund auf verdorben. Es war meine Pflicht, mich um sie zu kümmern. Und ich habe Gleichgesinnte gefunden, die mir bei der Aufgabe geholfen haben, sie zu erziehen und zu bestrafen.“
Pauls Reaktion kam sofort: „Erziehen und bestrafen? Sie haben doch nur Ihre eigene Geilheit und Perversität ausgelebt, in dem Wissen, dass Sie ein Verbrechen begehen. Deshalb haben Sie sich auch mit Waisenkindern aus dem Ausland beliefern lassen, um unentdeckt zu bleiben.“
Wieder hustete Wittgen. In seinem Mundwinkel erschien eine weißlich-rote Substanz. „Ich habe nicht mehr lange“, sagte er, als er wieder zu Atem kam.
„Das habe ich gehört.“
„Und ich habe ein Recht auf eine letzte Ölung. Hast du alles mitgebracht?“
Paul nickte. Er öffnete seinen Mantel, zog aus der Innentasche eine gelbe Stola heraus und legte sie sich um den Hals. Dann platzierte er eine messingfarbene Dose und einige andere Utensilien auf dem Nachttisch.
„Ich will meine letzte Ölung“, wiederholte Wittgen.
„Bevor wir damit anfangen, müssen Sie Ihre Sünden bereuen“, sagte Paul.
„Bereuen? Was soll ich denn bereuen?“
„Das, was Sie den Kindern angetan haben.“
„Ich habe es dir doch schon mehrmals gesagt! Wie oft soll ich es denn noch wiederholen?“ Wittgens Stimme war laut. Er sprach langsam und überdeutlich, als ob er Paul eine Selbstverständlichkeit erklären müsste. „Das war keine Sünde . Was ich getan habe, hat den Kindern gut getan . Das haben sie gebraucht . Und wie sie es gebraucht haben, diese…. diese Lümmel!“
Paul erwiderte zunächst nichts. Ich sah ihm deutlich an, wie sehr er mit seiner Beherrschung kämpfte. Schließlich fuhr er fort: „Bevor Sie Frieden mit dem Herrn schließen können, müssen Sie die Sünden, die Sie begangen haben, erkennen und zu einem Abschluss bringen. Fangen wir mit einer einfachen Frage an: in welcher Beziehung standen Sie zu Bernhard Schwarz?“
Kaum dass Paul Bernhards Namen ausgesprochen hatte, kreischte Wittgen auf. „Dieser Schwarz! Dieser Idiot! Er war’s. Er hat alles zerstört!“
„Inwiefern?“ Paul hatte sich vorgebeugt. Sein Gesicht verriet eine immense Anspannung.
„Wir beide haben Jugendmannschaften trainiert. Und beim letzten Fußballturnier hat seine Mannschaft gegen meine gespielt. Dieser Typ hat unentwegt Fotos gemacht. Hielt sich wohl für einen Starfotografen. …Als wir gingen, hat er unsere Kameras vertauscht. Er hat versehentlich meinen Apparat
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