Wo die Toten ruhen - Psychothriller
nicht besonders gut an die Einzelheiten erinnerte. Gegen Mitternacht versuchte er, auf der Bettcouch zu schlafen, fand jedoch keine Ruhe. Die Halogenlampen brannten auf ihn herunter wie rosafarbene Augen. Er ging zu dem Bücherregal, kniete sich auf den Teppichboden und zog eine Plastikkiste heraus, die seine tiefe Vergangenheit - aus der Zeit vor Leigh - beherbergte.
Seine Mutter hatte kaum Fotos von ihm als Kind gemacht. Wenn sie umzogen, durfte er jedes Mal nur zwei Kartons mit Papieren, Spielzeug und Büchern mitnehmen. Er fand seine Kinderzeichnungen und etliche verblichene Farbfotos von Häusern, die einander jetzt so ähnlich waren und - wie er mit seinen geschulten Augen heute sagen konnte - unglaublich schäbig, dann ein paar Schnappschüsse, wie er in verschiedenen Hinterhöfen Saltos sprang, seine Mutter ganz hysterisch, weil er sich fast den Schädel einschlug. Die Reifenschaukel in irgendeinem Hof. Wo? In der Ceres Street?
Keine Fotos von seinem Vater. Seine Mutter musste jedoch noch Gefühle für ihn gehabt haben, denn sie war nie wieder mit einem Mann ausgegangen. Sie sah nicht schlecht aus, nicht mal jetzt, mit Ende fünfzig, doch sie hatte ihre Allüren: Das habe ich hinter mir.
Er stellte sich seinen Vater mit einem Zähne zeigenden Grinsen vor, ähnlich seinem eigenen, das die spitzen Eckzähne entblößte. Leigh hatte ihn einmal »fuchsartig« genannt, was ihm geschmeichelt hatte. Eine andere Frau wiederum hatte gemeint, er sehe dem jungen Jack Nicholson ähnlich. Während er verschiedene Fotos von sich als Teenager aus der Plastikkiste hervorkramte, überlegte er, was er wirklich in all diesen Jahren
gedacht hatte, als er den größten Teil seiner Energie darauf verwandt hatte, irgendwo dazuzugehören. In Hillview hatte er Drogen genommen. An der Cal High hatte er sich in einen Popper verwandelt. Immer wenn sie umgezogen waren und er in eine neue Schule ging, blieb er so lange vorsichtig und zurückhaltend, bis er herausgefunden hatte, wie er sich verhalten musste, um einigermaßen anerkannt zu werden und gut durch das Jahr zu kommen.
Ray bedauerte es, dass er seinen Vater nicht kennen gelernt hatte, und sei es auch nur, um sich an die Farbe seiner Augen zu erinnern, oder zu wissen, ob er sich für Physik begeisterte oder eher für körperliche Arbeit. Er machte mit seiner kleinen Sammlung von Plastikspielzeug weiter - bunte Autos und Züge.
Auf der ersten, nicht beschriebenen Seite eines Buches, das er Sommer für Sommer gelesen und wobei er sich gewünscht hatte, er könnte in der Geschichte leben - ein Roman von Edith Nesbit mit dem Titel Feuervogel und Zauberteppich - , entdeckte er eine handschriftliche Auflistung. Er wusste nicht, warum seine Mutter ausgerechnet dieses Lieblingsbuch aufbewahrt hatte, doch er war ihr dankbar. Sie hatte es ihm oft vorgelesen. Vielleicht hatte sie es auch geliebt.
Am Boden der Kiste fand er die Schlüssel.
Er holte sie zur genaueren Begutachtung heraus. Von allen Häusern, in denen sie gewohnt hatten, hatte er, wenn sie umgezogen waren, einen Schlüssel behalten. Seine Mutter, die tagsüber den verschiedensten Jobs nachging, hatte darauf bestanden, dass er immer selbst einen Schlüssel zu dem Haus besaß, in dem sie lebten, und so hatte er stets einen bekommen. Seine Mutter ging sehr sorgsam mit Schlüsseln um. Die Haustür war immer abgeschlossen. Schlüssel waren kostbar. »Beschützer« nannte sie sie.
Er hatte als Junge begonnen, die Schlüssel zu sammeln und sie an einen silbernen Schlüsselring gehängt, der verheißungsvoll klimperte. An einigen Schlüsseln hingen noch Reste von mit Leuchtstift beschrifteten Anhängern oder Klebeband mit Kritzeleien.
Er schüttelte den Schlüsselring und freute sich, dass er klimperte. Dann schlug er die erste Seite des Buches auf und las die Adressen, die er sorgfältig in Druckschrift notiert hatte, eine nach der anderen:
Norwalk, Whittier, Downey, Redondo Beach, Yorba Linda, Placentia, Fullerton.
Die Liste ging so weiter, seine Vergangenheit war über sämtliche trostlosen Vororte von Los Angeles und Orange County verstreut. Manchmal waren sie nur wenige Kilometer umgezogen, von einer Gegend in die nächste. Damit seine Mutter ihren Job behalten konnte?
Ich war auf zehn Schulen, bevor ich in die Highschool kam, sagte er sich noch einmal.
Warum?
Wie er da saß, mit einem unbeschreiblichen Gefühl in der Brust, hörte er, dass es oben an der Haustür klingelte. Er schaute auf die Uhr: Es war halb zwei.
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