Wo die Toten ruhen - Psychothriller
gegeben hatte, »alle auf der Standspur, die Autobahnpolizei kümmert sich um die Angelegenheit«, abrupt gefolgt von einem fröhlichen Werbeliedchen.
Überall auf der 405 bot sich dasselbe Bild von Autofahrern: fest zusammengebissene Zähne, die Hände klebten am Steuer, aus den Radios ergossen sich dürftige Ratschläge, sämtliche Fenster waren hochgekurbelt, und die Klimaanlagen liefen auf Hochtouren.
Schneller als fünfzig Stundenkilometer konnte man um diese Zeit sowieso nicht fahren, doch heute ging es durch den Unfall noch langsamer, und die Hölle brach aus, als jemand, der genauso gestresst war wie sie, aber weniger unverwüstlich, exakt diesen Augenblick wählte, um einen Herz- oder Schlaganfall oder sonst etwas zu bekommen. Kat atmete tief ein und aus und erinnerte sich an Weisheit und Mitleid, und ihr eigener Stress verflüchtigte sich. Drei Wagen der Autobahnpolizei vor ihr begannen ihren stockenden, schlenkernden Tanz, der den Verkehr noch mehr verlangsamen sollte. Sie stoppten rund hundert Meter vor ihr, und alle anderen Fahrzeuge auf der Schnellstraße hielten ebenfalls. Wenige Minuten später stieß ein Hubschrauber durch die Dunstglocke und landete in einem Wirbel aus Staub auf der Straße.
Kat, die die Fenster trotz der draußen glühenden Backofenhitze geöffnet hatte und zuschaute, wie der arme Tropf in die Luft befördert wurde, erinnerte sich an die glühenden Sommertage ihrer Kindheit in Whittier. Schließlich räumte die Autobahnpolizei die Straße, und sie konnten endlich weiterfahren. Der Verkehr, jetzt erst recht gestaut, kroch extrem langsam voran. Trotzig zog sie ihr T-Shirt aus. Der Fahrer links neben ihr starrte auf ihren teuren Push-up-BH und reckte den Daumen anerkennend in die Höhe, bevor er in die nächste Spur wechselte.
Die Frau, die jetzt links von ihr war, fuhr einen AWD-Audi-Zweitürer, der wahrscheinlich auch kein Freon mehr hatte oder wie auch immer der aktuelle Kühlerzusatz hieß. Die Haare
ordentlich mit einer Klammer zusammengesteckt und in einer Bluse, die so durchnässt war, dass sie nichts der Phantasie überließ, wurde sie auf eine Idee gebracht. Sie tauschte einen Blick mit Kat, zog ihre Bluse aus, und ein sittsam grauer Sport-BH kam zum Vorschein. Zur Hölle mit ihnen, wenn sie eine attraktive Frau nicht akzeptieren können, waren Kat und die andere Frau sich stillschweigend einig und nickten einander respektvoll zu.
Der Verkehr schleppte sich dahin. Die beiden ungehörigen Frauen erregten kaum die Aufmerksamkeit der Leute, die in ihren klimatisierten Fahrzeugen hinter den getönten Fensterscheiben eingeschlossen waren.
Was liebte Kat an Los Angeles? Waren es die würzig-salzigen Wellen des Pazifiks, die über die Stadt hinwegspülten und alle Sünden mit sich rissen, alles reinigten, Hoffnung weckten? Oder war es die reine Hartnäckigkeit? Miserere , aber ich nehme das Leben, wie es kommt, sagte sie sich und schob Andrea Bocelli in den CD-Player.
Kat rief zu Hause an, um ihren Anrufbeantworter abzuhören. Keine Nachricht von Leigh. Dann rief sie die Auskunft an und ließ sich mit Ray Jacksons Haus verbinden. Niemand hob ab. Wild entschlossen rief sie in Rays Büro an, wo man ihr jedoch mitteilte, er habe gerade eine Konferenzschaltung und dürfe nicht gestört werden.
Frustriert beschloss Kat, sofort nach dem letzten Check in ihrem Büro nach Topanga zu fahren, um den geheimnisvollen Mann kennen zu lernen, den Leigh geheiratet hatte.
Vermisste Leigh sie? Leigh hatte nicht leicht Freundschaft geschlossen. Kat erinnerte sich, dass sie eines Tages in der Franklin Street die Haustür geöffnet und einen Sack und eine Karte gefunden hatte, auf der stand: »Für meine Amiga «.Darin war ein winziges gerahmtes Foto, das zwei kleine Mädchen
zeigte, die mit dem Rücken zur Kamera an einem Ufer standen.
Leigh machte solche Geschenke, Dinge, an denen sie heimlich gearbeitet hatte, niemals zum Geburtstag oder zu Weihnachten.
Hatte es damals einen Augenblick gegeben, an dem Kat den Lauf der Geschichte hätte ändern können, statt das Falsche einfach geschehen zu lassen?
Nach dem Collegeabschluss standen Tom die vielversprechenden Aussichten auf eine Karriere als Politikwissenschaftler offen. Er arbeitete zuerst ein Jahr lang in einer Ketchup-Fabrik. Nachdem er monatelang soßenverschmiert nach Hause gekommen war und aussah wie ein Mordopfer oder wie der Mörder selbst, kündigte er und arbeitete als Gabelstaplerfahrer in einer Lagerhalle. Abends und am
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