Wo die Toten ruhen - Psychothriller
wobei er einen Acura und einen Infiniti schnitt, weil es ihm im Gegensatz zu anderen vollkommen gleichgültig war, ob sein Auto einen Kratzer abbekam. Das Einzige, was ihn interessierte, war, diesen Parkplatz zu ergattern.
Er atmete ein paar Mal tief durch, drückte den Knopf für die Zentralverriegelung und kümmerte sich nicht um die wüsten Beschimpfungen, die aus dem Acura drangen, auch nicht, als heftig von innen gegen die Wagentür geschlagen wurde, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Zwei Häuser weiter bot ein staubiger Laden, malerisch in die Welt gesetzt zu jener Zeit, als Radios noch Sexappeal besaßen, ein Durcheinander billiger Elektronik an.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein Verkäufer in dreiteiligem Anzug, der so wenig in seine Umgebung passte wie ein Richter mit Robe an einen Badestrand.
»Ich brauche einen Kassettenrekorder.«
Der Verkäufer kaute auf seinen Lippen herum. »Hmm.« Er deutete Ray an, mit ihm zu kommen, und Ray folgte ihm durch Gänge mit Plastikteilen, Kopfhörern, Drähten, technischen Spielereien für jeden erdenklichen und wahrscheinlich manch unerdenklichen Zweck.
Er zeigte Ray einen Autokassettenrekorder.
»Tragbar«, sagte Ray.
Der Verkäufer schob die Augenbrauen zusammen. »Mann, wozu wollen Sie denn so ein steinzeitliches Gerät?«
»Sie haben keinen?«
Er hob eine Hand. »Natürlich haben wir welche. Werden heutzutage nur kaum noch nachgefragt. Warten Sie’ne Sekunde.« Er wandte Ray den Rücken zu und verschwand durch eine Tür im hinteren Teil des Ladens.
Ray schlenderte durch die Gänge und stellte fest, dass es hier eine Reihe interessanter Dinge gab, die irgendwann einmal nützlich sein könnten, unter anderem eine Miniaturbeleuchtung für seine Modelle. Er stapelte ein paar Sachen auf die Ladentheke. Als der Verkäufer mit einem sehr altmodischen Ghettoblaster zurückkehrte, der mit Batterien lief, belief sich alles zusammen auf eine recht anständige Summe.
»Sie brauchen einen Kopfhörer.«
»Habe ich.«
Als er das Geschäft verließ, war der Acura verschwunden. Neben dem Hydranten lauerte schon ein anderes Auto auf einen frei werdenden Parkplatz - die Natur verabscheut das Vakuum. Ray lud seine Einkäufe in den Kofferraum, schlug ihn zu und fuhr davon. Das andere Auto glitt wenige Zentimeter hinter ihm in die Parklücke.
Zurück nach Topanga, Gas geben, bremsen, dicht auffahren, fluchen. Es war fünf Uhr am Nachmittag, und Ray verlor vollkommen
die Nerven, er weinte und brüllte im Auto, ohne überhaupt zu wissen, was er da brüllte.
Eine kalte Dusche. Die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und den Computer ignorieren. Er eilte hinaus und lief eine Weile wie gehetzt durch die hügelige Nachbarschaft.
Es funktionierte. Er kam wieder zu sich.
Als er zurückkam zum Haus, hatte er sich so weit beruhigt, dass er über die zahllosen anonymen Mieter nachdenken konnte, die in den letzten zwanzig Jahren in der Bombardier Avenue gewohnt hatten. Einer von ihnen hätte die lose Diele finden und die Gelegenheit nutzen können.
Doch er hatte den Beweis, dass dem nicht so war. Er hatte gesehen, wie seine Mutter das Dielenbrett an seinen Platz zurückgeschoben hatte. Er hatte sie beobachtet. Er beobachtete sie stets mit der eifersüchtigen Aufmerksamkeit des Einzelkindes. Dieses Haus war dreißig Jahre lang nicht renoviert worden. Davon hatte er sich mit eigenen Augen überzeugt. Au ßer dem Dielenboden gab es noch etliche andere Dinge, denen sich niemals jemand gewidmet hatte.
Er ging ins Haus und stieß auf die Museumspläne, die er auf dem Vorzimmertisch abgelegt hatte. Aus seiner Tasche zog er eine schwarze Kassette, drehte sie in den Händen und musterte sie. Kein Etikett. Normal BIAS. Sony. Er konnte sehen, wo das weiße Stück des schmalen Bandes auf das braune stieß. Jemand hatte das Ding zurückgespult, doch das Band war locker.
In der Küche fand er einen Bleistift, mit dem er das Band übertrieben vorsichtig aufwickelte.
Im Wohnzimmer im Musikschrank lagen Kopfhörer. Da er nicht gestört werden wollte, ging er durchs Haus, schloss sämtliche Türen ab und schaltete sogar die Alarmanlage ein. Er setzte den Kopfhörer auf, passte ihn richtig an und steckte den Stecker dann in den Kassettenrekorder. Rauschen, dann:
»Du weißt, warum ich anrufe.« Das klang nach der Stimme seiner Mutter, etwas piepsend, jünger.
»Habe ich dir Angst gemacht?«, fragte eine Männerstimme.
»Ja! Ja, du hast mir Angst gemacht. Ich habe hinausgesehen
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