Wo die Toten ruhen - Psychothriller
umschaue?«
Machte es nicht. Von ihren Eltern wohl nicht im rechten Umgang mit Fremden unterwiesen, widmeten sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder den Zeichentrickfilmen, während Ray ungehindert in dem Haus herumging. Er machte sich im Geiste Notizen für sein Modell - an dieses Fenster hatte er sich nicht erinnert, jener Schrank stand in der Ecke und nicht an der seitlichen Wand.
Es hatte sich kaum etwas verändert, was traurig war, denn das, was in seiner Kindheit aufregend und neu gewesen war, war inzwischen schäbig. Hinter dem Haus fehlten etliche Teile an dem hölzernen Gitter über der betonierten Terrasse, obwohl es mit der schweren, wild wuchernden Glyzinie fast charmant wirkte. Jemand hatte versucht, den Beton darunter anzustreichen, doch die Farbe war verblasst und weitgehend abgeblättert.
In seinem Schlafzimmer, das jetzt aprikosenfarben war und nicht mehr blau, wie er es in Erinnerung hatte, stand ein Etagenbett. Offensichtlich hatte der Junge oft Freunde zu Besuch und war besessen von Autos. Sämtliche Wände waren in unregelmäßigen Mustern mit Autoaufklebern verunziert.
In der Küche zeigte das blaue Resopal Risse von heißen Töpfen, die niemals darauf hätten abgestellt werden sollen. Seine Mutter hatte immer mit ihm geschimpft, wenn er mit etwas Heißem in die Nähe der Arbeitsplatte kam. Er schaute unter die Spüle. Sie hatte dort Dinge versteckt. Einmal hatte sie ihm erzählt, dass sie für den Fall, dass mal ein durchgeknallter Drogenabhängiger an die Tür klopfte, in einer Dose dort unten zwanzig Dollar aufbewahrte.
Bleichmittel. Reinigungsmittel. Zerfetzte Schwämme.
Doch im Elternschlafzimmer stieß er auf etwas, wofür sich dieses ganze vollkommen verrückte Unternehmen lohnte. Mühelos fand er an der Rückwand des Kleiderschranks das Versteck für den Schmuck der Frau. Sie besaß einige wenige goldene Stücke, Erinnerungen, die keinerlei materiellen Wert hatten. Wenn man Menschen danach beurteilen müsste, würde man zu dem Schluss kommen, dass das Leben eine traurige und armselige Angelegenheit ist. Doch was in diesem Raum seine Aufmerksamkeit erregte, war eine lockere Fußbodendiele.
Er erinnerte sich an diese Diele und daran, dass seine Mutter sie angehoben hatte.
Sie hatte immer ein Versteck. Sie nannte es ihren »Safe«. Beschützer, Safe … er nahm an, dass viele allein erziehende Mütter in solchen Kategorien dachten.
Er schlug auf die unvernagelte Seite. Die Diele flog hoch.
Ein Hohlraum war darunter. Er griff hinein, in ein dunkles Versteck voller Spinnweben.
Im Wohnzimmer fragte er die Kinder, ob sie Lust hätten, ein Eis essen zu gehen.
Mit einem Vergnügen, das er sofort als gesellschaftlich und sozial inakzeptabel empfand, stellte er sich vor, welche Angst die Eltern haben würden, wenn sie nach Hause kämen und die Kinder nicht da wären.
Sadistisch, ja, und gleichzeitig doch auch vollkommen gerecht.
Er war in ein leeres Haus zurückgekommen. Er wusste, was Angst war.
»Nein«, sagte der Junge bedauernd. »Wir dürfen nicht raus.«
Er drängte nicht und sagte den Kindern, die erleichtert wirkten, dass er ging, auf Wiedersehen. Begriffen sie, dass das alles irgendwie nicht normal war, dass er an einem ganz normalen Nachmittag hier nichts verloren hatte?
Sie schienen nette Kinder zu sein, und er hätte ihren Eltern mit Freuden eine ordentliche Lektion erteilt. Natürlich war die ganze Idee verrückt, man hätte ihn erwischt. Was war nur mit ihm los?
Die Kinder blieben reglos vor dem Fernseher sitzen. Er wandte sich Richtung Ausgang, zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Er wollte keine ungebührliche Aufmerksamkeit.
Er stellte sich die Panik der Eltern vor, wenn sie nach Hause kamen. Es reichte, dass er hier gewesen war, sich umgeschaut hatte, ohne etwas mitzunehmen, zumindest nichts, was ihnen auffallen würde.
»Was soll ich denn sagen, wer hier war?«, fragte der kleine Junge, als Ray eben die Haustür hinter sich zuziehen wollte.
Ray hielt einen Moment inne und antwortete dann: »Clint Eastwood.«
Er hatte keinen Cowboyhut, an den er jetzt hätte tippen können, also nickte er nur, trat hinaus, betastete seinen Fund, der jetzt sicher in seiner Jeanstasche verwahrt war, und drückte den Verriegelungsknopf in den Türknauf, bevor er endgültig ging.
Auf dem Heimweg fuhr er in die Innenstadt von Los Angeles und wartete geduldig neben einem Hydranten, bis jemand am Straßenrand einen Parkplatz frei machte. Er manövrierte sich hinein,
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