Wo die Toten ruhen - Psychothriller
einem Jahr hat sie bei einem Trödler eine alte tibetische Truhe entdeckt. Früher fertigten die Tibeter gerne Möbel mit Geheimfächern an. Sie benutzten wirklich einfache Mechanismen, um diese Fächer öffnen zu können, das war auch bestimmt für Diebe keine Schwierigkeit. Aber hier bei uns bauen wir Tresore. Nicht wahr? Wir bedienen uns nicht irgendwelcher Tricks, um unsere Wertgegenstände zu verstecken, wir bauen einfach unübersehbare und offensichtlich unbezwingbare Schränke. Aber ich kann mich trotzdem nicht mehr daran erinnern, wie dieses Ding zu öffnen ist.«
»Sie meinen diese Truhe hier?« Kat stand neben ihm. Er sah hinein, zerrte an den Seitenwänden, rüttelte daran herum. Kat erkannte, dass die Truhe eindeutig Leigh gehören musste: rot, handbemalt, mit einem paar Nymphensittichen, die aussahen wie die Vögel von Leighs Mutter damals, als Leigh in die achte Klasse ging.
»Nein, in der Originaltruhe befanden sich lose Holzspäne, was laut Leigh hieß, dass Insekten darin aktiv waren. Aber diese Truhe hatte es ihr angetan, besonders das Geheimfach. Also hat sie sie nachgebaut. Sie hat mir auch gezeigt, wie das
Geheimfach funktioniert, aber ich … es ist kein Mechanismus, es ist etwas ganz Simples …«
»Lassen Sie mich mal probieren«, sagte Kat. »Ich habe kleinere Hände.«
Sie drückte und zog. Nichts. »Hier gibt’s keine Geheimnisse.«
Ray schüttelte den Kopf und versuchte noch einmal sein Glück. Er lächelte. »Jetzt weiß ich’s wieder.« Er zeigte auf ein Stück Holz, das dafür sorgte, dass die Tür zu schließen war, ohne sich weiter nach innen drücken zu lassen. »Schauen Sie mal.« Das Holzstückchen ließ sich zwei, drei Zentimeter nach oben schieben. Ray griff unter die bemalten Fächer und zog. Nun ließen sie sich öffnen. Er holte eine Schmuckkassette hervor, ein Notizbuch und eine Ausweishülle mit diversen Papieren darin. Kat schob die Unterlippe vor und zog die Augenbrauen hoch.
»Sie baut Möbel. Eine Rückkehr zu einfacheren, verschlageneren Zeiten.« Er grinste.
Sie lächelten einander an. Kat hatte den Eindruck, dass es richtig von ihr gewesen war, direkt in die Höhle des Löwen zu gehen.
»Ich nehme das Notizbuch …«, begann sie.
»Nein«, sagte Ray. »Warten Sie. Lassen Sie mich zuerst alles durchschauen.«
Während Ray das tibetische Geheimversteck weiter durchwühlte, rief Kat Jacki an. »Wie geht es dir?«, fragte sie und wartete auf die gewohnt aufdringlichen Fragen ihrer Schwester. Stattdessen ließ Jacki sich in aller Ausführlichkeit über das Baby aus: wie es »Ah« machte, wie viel es weinte, wie es das Gesichtchen verzog, wenn es sich gestört fühlte oder Verstopfung hatte. Kat hörte zu, meinte hier und da »Aha« und schaute
aus dem Fenster. Ihr Ohr drohte taub zu werden, und bald würde sie quälende Kopfschmerzen bekommen.
»Hörst du mir eigentlich zu? Ich habe das Gefühl, du hörst mir überhaupt nicht zu!«
»Doch. Ich schwöre.«
»Also, was habe ich dir gerade erzählt, wie oft pro Tag furzt Beau?«
»Du bist diejenige, die bei Tests immer super abschneidet. Weißt du nicht mehr, dass ich das Staatsexamen wiederholen musste, obwohl ich mehr wusste als alle anderen im Büro?«
»Drei bis fünf«, sagte Jacki.
»Huch, ich muss los, pass gut auf dich auf. Gib dem Baby einen Kuss von mir.« Kat trennte die Verbindung.
Ray hatte sich die paar Dinge in der Truhe angeschaut. »Leigh hat sich Ihnen anvertraut, als sie Ihnen die tibetische Truhe zeigte, die sie gebaut hat, Ray. Sie wollte sich nicht vor Ihnen verstecken.«
»Sie wusste, dass ich unter keinen Umständen hineinschauen würde.«
»Sie hat Ihnen ihr Geheimnis gezeigt«, sagte Kat. Warum war er so schwer von Begriff? »Sie hat versucht, Sie in ihr Leben zu lassen.«
Er schüttelte traurig den Kopf.
»Was haben Sie da in der Hand?«, fragte Kat ungeduldig
»Sie hat Gedichte geschrieben«, sagte Ray. »Sie hatte ein kleines chinesisches Notizbuch …«
»Ein Tagebuch?«
Er wurde rot. »Liebesbriefchen. Kleine Gedichte.«
»Hm.«
»Das hier sind Zeichnungen. Möbelentwürfe, Visionäres, nichts, was sie meines Wissens je gebaut hätte. Und hier, das
sind Erinnerungen, Zeitungsausschnitte, in denen über Ihren Bruder berichtet wurde, Notizen, offenbar auch Mitteilungen von ihm an sie. Die goldenen Ohrringe von ihrer Mutter sind nicht da. Auch ihr Pass ist weg und unsere Heiratsurkunde. Und ihr Testament. Das alles hat sie mitgenommen. Ich weiß, dass sie
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