Wo die Toten ruhen - Psychothriller
blutige T-Shirts geisterten durch ihre Träume.
Der Manhattan-Mix aus dem Schnapsladen ging allmählich zur Neige. Esmé schenkte sich in ihre Kaffeetasse nach und nahm noch einen Schluck. Ein feineres Glas wäre ihr allerdings lieber gewesen. Was dachte sie sich nur dabei, aus so einer klobigen Steinguttasse zu trinken? Wenn Ray das sehen würde ….
Sie goss die Tasse bis zum Rand voll. Es war ein langer Tag gewesen, der damit begonnen hatte, dass sie im Supermarkt angerufen und sich krank gemeldet hatte. Sie setzte sich aufs Sofa.
Heute Abend würde sie nichts kochen; sie hatte keinen Hunger.
In den zwei Jahren, die sie zusammen waren, schien ihnen die Welt zu Füßen zu liegen, und alle Möglichkeiten standen ihnen offen. Die Tatsache, dass Henrys Eltern Esmé nicht mochten, war so unbedeutend wie der Schlag mit einem Staubwedel. Wen kümmerte es schon, was die dachten? Auch ihre Großeltern waren nicht einverstanden, doch auch ihre Zustimmung wurde von niemandem erwartet. Du lieber Gott! Diese Menschen
waren im frühen zwanzigsten Jahrhundert zur Welt gekommen, vor sehr langer Zeit.
Wären sie in der Lage gewesen, objektiv zu bleiben und in Henry nicht nur den kopflosen verliebten jungen Mann zu sehen, hätten sie erkennen müssen, was für eine gute Partie er in Wirklichkeit war. Henry hatte die Highschool mit Auszeichnung abgeschlossen und war zwei Jahre auf der Cal gewesen. Er hatte seinen Abschluss fast in der Tasche, als sie heirateten, und er wollte Graduiertenkurse belegen, sodass er womöglich eines Tages an der Cal State hätte unterrichten können. Bevor alles schieflief.
Niemand hätte ahnen können, dass ein so wunderbarer Mann mit so schönen blauen Augen sich derartig verändern könnte.
Sie schenkte sich nach und ging hinaus in den Garten. Sie war so jung gewesen damals. Und Henry wollte sie. O ja. Er liebte ihr weiches Haar, ihre Jugendlichkeit, ihre süße Unschuld.
Oh, hätte Ray doch nur ein Mädchen gefunden, das so war wie sie damals! Sie war unwiderstehlich gewesen!
Dann hatte sie Ray bekommen. Sie hatte während der Schwangerschaft von fünfundfünfzig auf vierundachtzig Kilo zugenommen. Nach seinem Abschluss hatte Hank eine Stelle an der Cal State Long Beach als wissenschaftlicher Assistent angenommen. Abends kam er verstimmt heim, mit sich selbst genauso unzufrieden wie mit ihr.
»Andere Frauen achten auf ihre Figur«, sagte er. »Andere Frauen fangen gleich nach der Geburt ihres Babys wieder an zu arbeiten.«
Er wollte, dass sie ihn unterstützte, damit er seine Promotion abschließen konnte, und begriff nicht, dass dieses Ziel für sie keine absolute Priorität hatte.
Ihr waren hübschere Frauen ebenso egal wie seine Ausbildung. Sie würde erst dann wieder arbeiten gehen, wenn ihr erstaunlicher kleiner Junge den größten Teil des Tages in der Schule verbrachte. Und ihre Figur war ihr herzlich gleichgültig.
»Richtige Männer wollen, dass ihre Frauen zu Hause bleiben und sich um das Wohl ihrer Söhne kümmern«, erwiderte sie.
Esmé fragte sich, wo Ray stecken mochte. Sie hatte ihn heute schon zweimal angerufen, doch er hatte nicht abgehoben. Sie versuchte es am Handy und hinterließ eine Nachricht.
Sie leerte die letzten Tropfen des Manhattan-Mix in ihre Tasse und trank aus. Obwohl keinesfalls mehr nüchtern, war sie sich sicher, noch Auto fahren zu können, auch wenn sie innerlich sehr aufgewühlt war. Sie steckte ihre Schlüssel ein, rief ein Taxi und ließ sich zum Granada Market bringen. Auf dem Parkplatz dort stand ihr Auto.
Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, doch der Wagen sprang nicht an.
Doch sie hielt nichts von göttlicher Vorsehung. Sie glaubte nicht an das Schicksal. Beim vierten oder fünften Mal sprang der Motor schließlich doch an. Sie merkte vage, dass sie nicht übermäßig sicher fuhr, doch immerhin vermochte sie die Spur zu halten. Sie riss ihre Augen weit auf, umfasste das Steuer fest mit beiden Händen und sagte sich immer wieder vor, dass sie in Richtung Topanga Canyon fahren musste.
Irgendwie schaffte sie es, in dem Wirrwarr der Schnellstra ßen aus Whittier herauszukommen. Diese Straßen ließen sie immer an Labyrinthe denken, die aus Steinen gelegt wurden. Sie begannen in der Mitte und führten irgendwo am Rand zum Ziel. Manche Menschen fanden das erbaulich, wenn nicht gar spirituell. Sie hatte es schließlich mit gemischten Gefühlen
auch versucht, durch Labyrinthe zu gehen, doch sie frustrierten und ärgerten sie.
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