Wo die Toten ruhen - Psychothriller
Immer wenn sie eine Wahl getroffen hatte - was notwendig war -, war es die falsche gewesen.
Ein wenig so, wie sie Henry gewählt hatte, der - wie sich herausgestellt hatte - der vollkommen falsche Mann für sie war.
Doch jetzt folgte sie einem bekannten Weg, und als der Verkehr ins Stocken geriet, lauschte sie der Talkshow im Radio.
»Ich hasse meinen Vater!«, rief ein Anrufer unter Tränen.
»Wir finden heraus, warum«, sagte der geduldige Moderator.
Vermutlich hatte der Moderator weder Erfahrung darin, Menschen zu beraten, noch womöglich irgendwelche Referenzen. Vermutlich hatte er drei Exfrauen und sieben Kinder, zu denen er kaum Kontakt hatte und die sich alle fragten, was Liebe war, während sie Zeugen seiner mittelmäßigen Existenz und seiner emotionalen Distanziertheit wurden.
Gegen sieben Uhr abends erreichte Esmé Rays Haus. Möglich, dass er ausgegangen war.
Während der Sommerzeit blieb es selbst im Canyon lange hell. Sie konnte kein Lebenszeichen entdecken, nur der Garten wurde automatisch beleuchtet, als sie aus dem Auto stieg. Sie ging die Einfahrt hinauf. Ihre Rockports knirschten auf dem Kies, und sie wusste, dass sie nicht in allerbester Verfassung war.
Heute Abend würde sie ihrem Sohn ihre Geschichte erzählen, die ganze traurige Wahrheit über sich und ihren Helden Henry Jackson. Wie alles auseinanderbrach. Wie sehr sie alles bereute.
Die Furcht vor der Begegnung war größer als die Freude darauf. Ihr Einfluss auf Ray war im Laufe der Jahre schwächer geworden. Leigh war in sein Leben getreten, das war der ganz
normale Lauf der Dinge. Leigh liebte Ray; selbst Esmé konnte sehen, wie sehr Leigh ihren Sohn liebte. Doch als eine Mutter, die absolut alles in ihr Kind investiert hatte, konnte sie die Veränderung nur schwer verkraften. Sie ging jeden Tag zur Arbeit in den Supermarkt, doch zu welchem Zweck? Es kam kein kleiner Junge mehr nach Hause, der umarmt werden musste, der neue Farbstifte oder Hilfe bei seinen Hausaufgaben brauchte.
Manchmal träumte sie von Enkelkindern. Doch sooft sie Ray mit diesem Thema ansprach, wurde sie vertröstet. »Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist.«
Mit anderen Worten, Leigh wollte keine, niemals, und Esmé konnte ruhig, jedenfalls wenn es nach Leigh ging, an gebrochenem Herzen sterben.
Der Alkohol weckte negative Gefühle. Das wusste sie sehr genau. Sie musste diese unerfreulichen Gedanken wieder verdrängen. Schließlich trat sie vor die Haustür und klingelte. Niemand öffnete.
Sie klopfte. Nichts.
»Ray?«, rief sie leise. Dann lauter: »Ray!«, ohne auf die Nachbarn zu achten. Nachdem sie anstandshalber ein paar Minuten gewartet hatte, gab sie auf und holte den hinter einem Brombeerstrauch versteckten altmodischen Schlüssel hervor. Sie steckte ihn erst in das Schloss, dann in den Riegel . Beide glitten auf, perfekt eingespielt, wie ein geübtes Musikorchester. Sie öffnete die Tür zu seinem makellosen, großartigen, sterilen Zuhause.
Automatisch ging das Licht an, als hätte sie darum gebeten. Wunderbar klimatisierte Luft umfing sie, und sie schloss einen Moment die Augen. Was für eine Wohltat! In einen solchen Genuss kam man, wenn man genügend Geld hatte und gut planen konnte. Ray war ein großer Fan moderner Technik, und in diesem Moment war sie das auch.
Sie räumte den Schlüssel rasch zurück an seinen Platz hinter dem Brombeerstrauch und ging wieder ins Haus. Sie fühlte sich sehr willkommen.
An seiner Bar schenkte sie sich einen Wodka ein und sah sich ein wenig um. Sie bewunderte und hasste die Kunstwerke an seinen Wänden. Bei dem Versuch, in seinem Schrank herumzustöbern, verschüttete sie jedoch ihren Drink und beschloss, sich lieber ein wenig hinzulegen.
Das zweifellos sündteure Sofa war zwar hart, aber es lagen wenigstens ein paar Kissen darauf. Sie nahm sich zwei davon als Kopfunterlage und streckte sich der Länge nach aus.
Sie würde es ihm erzählen.
Irgendwie konnte sie es nun kaum mehr erwarten. Über all die Jahre hinweg hatte sie ihr Leben in sich verschlossen. Dicht. Fest verkorkt. Wie neurotisch sie gewesen war. Ray sollte alles erfahren, fand sie und klopfte das Kissen mit einer Hand auf. Ihr wurde ein wenig übel. Er sollte erfahren, wer sein Vater war und wer seine Mutter war.
Wahrscheinlich verdiente er, das zu erfahren, obwohl ihr derartige moralische Ansprüche etwa so wichtig waren wie das Laub, das im Sommerwind tanzte, unberührbar - bis es zu Boden fiel und alle darauf herumtrampelten.
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