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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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Flüsternd hockten sie beieinander und beratschlagten, was sie nun machen sollten. Sie fürchteten sich davor, den alten Mann einfach so sterben zu lassen, aber gleichzeitig mussten sie seinen Wunsch respektieren, dass er genau dafür nach Hause gekommen war: um dort allein zu sterben.
    Geraldine lag nachts lange wach, weil sie daran denken musste, welche starken Schmerzen Thomas vielleicht hatte. Ihre Großmutter bemerkte, dass sie etwas bedrückte. Als sie zu Geraldine ins Zimmer kam, um ihr wie immer Gute Nacht zu sagen, fragte sie eines Abend schließlich: »Was ist denn los, mein Kind? Erzähl es deiner Großmutter!«
    Geraldine kuschelte sich in ihr Bett. Sie hatte vor Augen, wie Thomas krank und einsam in dem feuchten Raum auf der schmutzigen Matratze lag. Außerdem hatte sie dort bis auf den halben Laib Brot nichts zu essen gesehen.
    »Hast du was dagegen, wenn ich morgen aus der Küche ein paar Lebensmittel mitnehme?«, fragte sie. »Nur ein paar Päckchen Suppe und ein paar Dosen und Orangensaft.«
    Ihre Oma strich ihr über die Haare. »Nimm mit, was du brauchst. Macht ihr wieder eine Tombola für wohltätige Zwecke?«
    Geraldine vermied es, darauf zu antworten, und fragte stattdessen: »Sag mal, seh ich eigentlich meiner Mutter ähnlich?«
    »Ja, vor allem, wenn du lächelst. Aber manchmal erinnerst du mich auch an meine eigene Mutter.«
    »Und der Mädchenname deiner Mutter, wie lautete der noch mal? Hieß sie Fleming?«
    »Ja, genau. Sie war eine geborene Fleming.« Die Großmutterbeugte sich über Geraldine. »Du wirkst so angestrengt. Gibt es da wirklich nichts, was du mir erzählen möchtest?«
    Normalerweise hatte Geraldine keine Geheimnisse vor ihrer Großmutter.
    »Nein«, log sie. »Ich bin nur müde, Oma.«
    Am nächsten Tag durchsuchte sie die Küchenschränke und füllte einen alten Kopfkissenbezug mit Lebensmitteln, die einem Greis vielleicht schmeckten. Sie bat Shane, sich mit ihr am Abend an der Abzweigung zur Castledawson Avenue zu treffen. Doch Shanes Eltern gerieten beim Abendessen in einen so heftigen Streit, dass es schon fast dunkel war, bis er halbwegs zwischen ihnen vermittelt hatte und sich dann unbemerkt hinausschleichen konnte.
    Als sie das alte Haus endlich erreichten, schlug Shane vor, doch einfach an der Tür zu klopfen, aber Geraldine war dagegen. Thomas McCormack würde darauf nicht reagieren, meinte sie. Deshalb kletterten sie wieder über die Mauer und kämpften sich dann durch den verwilderten Garten. Bald spähten sie durch die Küchenfenster in das düstere Souterrain hinein. Es schauderte sie beide ein wenig, aber Geraldine war fest entschlossen, Thomas McCormack etwas zum Essen zu bringen. Wenn sie dann später im Bett lag, musste sie sich wenigstens keine Sorgen machen, dass er hungerte.
    Sie kletterten nacheinander durch das Fenster. Geraldine wollte eigentlich laut nach Thomas rufen, aber sie brachte es nicht über sich, die unheimliche Stille zu durchbrechen, die schwer auf ihnen lastete, als sie von der Küche über die Treppe in die Eingangshalle des Hauses hochgingen. Das Zimmer, in dem sie Thomas vor zwei Tagen angetroffen hatten, war leer. Nur die Matratze lag noch darin. Vielleicht war er doch insKrankenhaus gegangen. Geraldine atmete erleichtert auf. Aber Shane verspürte eine merkwürdige, unerklärliche Enttäuschung, als hätte ihn das Schicksal hierhergerufen und würde ihn nun mit leeren Händen wieder fortschicken. Sie gingen zurück in die Eingangshalle. Er schlug vor, dass sie vielleicht auch noch im ersten Stock suchen sollten. Als sie am Fuß der Haupttreppe angelangt waren, leuchtete er mit seiner Taschenlampe kurz hinauf. Dort oben wirkte alles so düster und unheimlich, dass sich keiner von ihnen beiden traute, den ersten Schritt zu machen.
    Sie zögerten und wussten nicht, was sie jetzt tun sollten. Plötzlich zuckten sie zusammen, weil vor ihnen Glas in Scherben zersprang. Geraldine schrie auf und umklammerte Shanes Hand. Er knipste rasch seine Taschenlampe an. Erschrocken schauten sie sich an, unsicher, was sie erwarten würde.

Z WANZIGSTES K APITEL
    J OEY
    N OVEMBER 2009
    E s war drei Uhr früh, als ich endlich zu Hause war. Von Bull Island bis Blackrock war es ein langer Weg, aber irgendwie hatten wir es geschafft. Ich wusste, dass Mum noch auf sein würde, wahrscheinlich lag sie auf dem Sofa und las einen Thriller aus der Bücherei. Ich musste klingeln, denn den Schlüssel hatte ich in der Schultasche bei Shane vergessen. Unser Haus

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