Wo die verlorenen Seelen wohnen
hatte sich nicht viel verändert, seit ich klein war. Die Zimmer waren seither mehrmals frisch gestrichen worden und letztes Jahr im Sommer hatte Mum sich ein neues Sofa und einen neuen Teppich gegönnt. Aber im Wesentlichen war alles wie in meiner Kindheit, als würde die Zeit stillstehen. Ich fühlte mich dort sicher und geborgen. Meine Mutter war bis vor Kurzem auch meine beste Freundin gewesen. Nie hatten wir Geheimnisse voreinander. Aber als sie jetzt vor mir stand, hatte sich das auf einmal geändert. Das Gefühl, ihr immer alles erzählen und mich von ihr immer trösten lassen zu können, war nicht mehr da. Ich wollte sie zwar auch jetzt nicht anlügen, aber ihr zu sagen, was ich an dem Abend alles erlebt hatte, war unmöglich.
Mum musste gespürt haben, was gerade in meinem Kopf vorging, denn sie sagte: »Mir gefällt nicht, was er mit dir anstellt.«
»Wer?«
»Dein neuer Freund. Ich hab das Gefühl, dass er absichtlich einen Keil zwischen dich und mich treibt. Jedes Mal, wenn du mit ihm zusammen warst, kommst du mir danach ein Stück fremder vor.«
»Du kannst nicht darüber bestimmen, mit wem ich befreundet sein soll, Mum.«
»Nein, kann ich nicht und ich will darüber mit dir jetzt auch keinen großen Streit anfangen. Ich hab immer gewusst, dass du eines Tages erwachsen sein würdest, und natürlich werde ich dann in deinem Leben nicht mehr dieselbe Rolle spielen wie vorher. Aber verbirg bitte keine wichtigen Dinge vor mir, Joey. Man fühlt sich so jämmerlich und einsam, wenn man merkt, dass der andere einen anlügt.«
»Aber keiner zwingt dich, allein zu leben.« Ich fühlte mich wie ein Verräter, weil ich nachplapperte, was Shane zu mir gesagt hatte. »Es ist nicht fair von dir, mich für deine Einsamkeit verantwortlich zu machen.«
»Sagt das dein Freund? Beeinflusst er jetzt auch schon, wie du mich wahrnimmst? Man kann allein leben, ohne sich einsam zu fühlen. Ich hab nach dem Tod deines Vaters einfach nie Lust gehabt, mich mit der zweitbesten Wahl zufriedenzugeben. Das ist die Wahrheit, Joey. Dein Vater und ich hatten eine stürmische, komplizierte Beziehung, aber es war nie langweilig. Ich hab immer gespürt, wenn bei ihm irgendwas los war, und mit dir geht es mir genauso. Als du da grade hereingekommen bist und mich so schuldbewusst angelächelt hast, hast du ihm aufs Haar geglichen. Warum kommst du erst jetzt nach Hause? Um drei Uhr morgens? Es ist gefährlich, sich um diese Zeit draußen herumzutreiben.«
»Gefährlich? Hab ich nichts von gemerkt«, log ich.
»Es gibt verschiedene Arten von Gefahr.«
»Ich war nicht mit einem Mädchen zusammen oder so was.«
»Das wüsste ich, wenn du mit einem Mädchen zusammen gewesen wärst, denn woran man das erkennt, hab ich gelernt.«
»Mum, darüber will ich jetzt nicht reden.« Ich hatte Angst, dass das Bild von meinem Vater beschädigt wurde. Ich hatte mich ihm auf Bull Island so nahe gefühlt, dass ich Shane alles verziehen hatte, sogar das mit dem geklauten Auto, weil ich überzeugt war, dass er das nur getan hatte, um mich mit dem Geist meines Vaters in Kontakt zu bringen. Jetzt aber beschlich mich das ungute Gefühl, dass Shane womöglich wirklich alles nur inszeniert hatte, um einen Keil zwischen mich und Mum zu treiben.
Sie wirkte erschöpft, als sie in ihr Zimmer ging. »Ich möchte keine Geheimnisse zwischen uns, solange du hier unter meinem Dach wohnst. Du bist musikalisch begabt, wie dein Vater, und wie dein Vater bist du auch leicht zu verführen. Man brauchte ihm bloß die Gitarre wegzunehmen und schon wirkte er wie eine verlorene Seele. Er hat versucht, immer wieder den Weg nach Hause zu finden, aber er konnte auch leicht vom rechten Weg abkommen. Es ist Zeit für dich, dass du das weißt. Lass dich nicht zu irgendwas verlocken, das du später bereust, Joey, vor allem nicht von jemandem, dem du nicht trauen kannst.«
E INUNDZWANZIGSTES K APITEL
S hane
A UGUST 2007
A ls Shane seine Taschenlampe in der Eingangshalle des alten Hauses auf Geraldines Füße richtete, entdeckte er vor ihr auf den Fliesen die Scherben einer zerschmetterten Milchflasche. Einer Milchflasche, wie es sie vor vielen, vielen Jahren gegeben hatte. Sie wollten gerade wegrennen, da durchdrang von oben ein schuldbewusstes Kichern die Stille.
»Das war kindisch von mir«, sagte eine Stimme, »aber als Junge sehnte ich mich immer danach, einmal eine Milchflasche über dieses Geländer nach unten zu schmeißen. Meine Mutter hätte mich dafür grün und blau
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