Wo du nicht bist, kann ich nicht sein
verstanden, und dass ich am liebsten die Uhr zurückdrehen würde und nur hoffte, dass sie zu schätzen wusste, was für ein verdammtes Glück sie hatte.
Nach dem Konzert brachten wir Emma nach Hause. Die Busse waren angeblich behindertengerecht, trotzdem war es ein Kampf, den Rollstuhl rein- und wieder rauszubugsieren, und ich bewunderte Freya für ihre Engelsgeduld. Gegen Ende der Fahrt stieg eine Horde Jugendlicher ein, die anfing, laute Bemerkungen über »Spastis« zu machen. Ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung zu werfen, zeigte Freya ihnen den Mittelfinger.
»Du hast mir nie erzählt, dass sie im Rollstuhl sitzt«, sagte ich, nachdem wir uns von Emma verabschiedet hatten und zur U-Bahn gingen.
»Tut sie auch nicht immer, nur wenn sie müde wird.« Freya sah mich lächelnd an. »Wieso? Warst du überrascht?«
Ich zuckte die Achseln. Vielen in unserem Alter wäre es unangenehm gewesen, mit jemandem im Rollstuhl gesehen zu werden, aber Freya machte das absolut nichts aus. Sie war echt lieb, so war sie schon immer gewesen â und deshalb machte es mir umso mehr Kopfzerbrechen, wie sie mich in letzter Zeit behandelt hatte.
»Egal«, sagte Freya. »Genug von Emma. Hat dir das Konservatorium gefallen?«
»Ja. Natürlich.«
»Besonders glücklich klingst du nicht.«
»Mir gehtâs super.« Ich hielt es für das Beste, nicht zu erwähnen, dass ich immer noch total neidisch auf ihr neues Leben war. »Ich glaub nur ⦠ich bin heute ins Grübeln gekommen. Es kommt mir so vor, als ob mir alles, woran mir was liegt, entgleiten würde.«
»Damit meinst du mich?«
Einen Moment lang wurde ich panisch. Es war eine Sache, wenn ich mir Sorgen machte, aber eine ganz andere, wenn sie laut aussprach, dass es Probleme gab. »Freya, ich liebe dich, das weiÃt du. Aber seit du hier bist, ist es so komisch zwischen uns geworden.«
Freya sah mich ernst an. »Hast du denn erwartet, dass alles so bleibt, wie es war?«
Vielleicht war ich naiv, aber genau das hatte ich getan. Damals am Sommeranfang, als alles so gut lief, war ich überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, dass die Entfernung unsere Beziehung belasten könnte. Aber jetzt war es nicht nur Paranoia, wenn ich den Eindruck hatte, dass die Sache nicht mehr so richtig funktionierte.
Ich nahm ihre Hand. »Ich will dich nicht verlieren. Klar, wir reden, aber am Telefon kann man sich ja weder küssen noch umarmen. Das ist zwar nicht alles in einer Beziehung, aber es gibt mir Sicherheit. Manchmal weià ich nur nicht, ob du dich überhaupt noch für mich interessierst.«
»Wie kommst du darauf?«
Die Antwort darauf war schwierig, wenn ich mich nicht in Selbstmitleid stürzen wollte.
»Vielleicht müssen wir mehr reden«, sagte ich. »Im Moment geht mir wahnsinnig viel durch den Kopf.« Ich erzählte ihr vom College, von meinen Eltern, von der Musik. Als ich fertig war, fuhr sich Freya mit der Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf. Mittlerweile waren wir in der Bahn und standen an der Tür, weil kein Sitzplatz mehr frei war.
»Das willst du zwar nicht hören«, sagte sie, »aber ehrlich, ich finde, dein Leben ist nicht so schlecht.«
»Du hast leicht reden«, sagte ich schärfer als gewollt, aber ich fühlte mich irgendwie in die Verteidigungshaltung gedrängt.
Freya sah mich mit einem merkwürdigen Blick an. »Werd erwachsen, Jonny.«
»Was? Freya, für mich ist das die Realität!«
»Du sagst, du hasst das College. Und ich meine, das College ist das, was du draus machst. Du möchtest da nicht sein, okay, aber willst du jetzt zwei Jahre lang darüber jammern, oder willst du versuchen, das Beste daraus zu machen? Ich versteh total, dass du genervt bist, weil du Musik nicht als Schwerpunkt hast, aber ehrlich, um Profi zu werden, musst du nicht zur Musikschule gehen oder einen A-level in Musik haben. Warum suchst du dir nicht ein paar Leute und gründest eine Band?«
»Könnte ich machen, aber â¦Â«
»Aber was? Jonny, du kriegst Spitzennoten, ohne was dafür tun zu müssen. Was meinst du wohl, was das für jemanden wie mich, der nicht so schlau geboren wurde wie du, für ein Gefühl ist? Was meinst du, was das für ein Gefühl ist, Emma zu sein? Sie hat Multiple Sklerose. An manchen Tagen geht es ihr gut, aber an anderen übergibt sie sich permanent,
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