Wo du nicht bist, kann ich nicht sein
langen Zug und warf die Kippe dann auf den Boden, wo sie sie mit der Hacke austrat.
Wütend blaffte ich: »Komm schon, es sind nur noch zehn Minuten Pause!«
»Du solltest mich nicht nerven, sonst helfe ich dir vielleicht nicht.« Claudia grinste falsch.
Ich atmete durch. »Sorry.«
»Du brauchst jemanden, der die Pausenaufsicht ablenkt. Der beste Weg nach drauÃen ist der Osteingang, weil man da hinter den Büschen entlangkriechen kann.«
»Und wie soll ich das machen?«
»Du kannst meinen kleinen Bruder und seine Freunde bestechen.« Eiskalt streckte Claudia die Hand aus. Ich sah Abby bittend an. Sie durchwühlte ihre Tasche und holte ihr Kinogeld heraus. Claudia zählte die Münzen und steckte sie ein.
»Geh zum Osteingang und warte irgendwo, wo man dich nicht sehen kann. Wenn einer der Jungs schreit, dass sich jemand beim FuÃball verletzt hat, haust du ab.«
»Danke.« Ich war Claudia tatsächlich dankbar â das war mal etwas ganz Neues. Abby und ich gingen zum Osteingang und achteten darauf, nicht von der Lehrerin entdeckt zu werden, die heute Aufsicht hatte.
»Ich kapier das nicht«, zischte Abby. »Ich dachte, du hättest Angst davor, dich mit Jonathan zu treffen.«
»Hab ich, aber wenn ich ihm jetzt helfe, wo er mich so braucht, ist es vielleicht egal, wie ich aussehe â und er sieht mich in einem anderen Licht â¦Â«
»Mrs Sanders!« Ein Junge kam aus dem Gang zum Pausenhof gerannt. »Rory hatte einen Unfall.«
Die Lehrerin lief los und ich stürzte auf die Büsche zu. Als ich hindurchkroch, rechnete ich jeden Augenblick damit, dass ein Fenster aufgehen und ein Lehrer meinen Namen brüllen würde. So lange ich konnte, hielt ich mich in Deckung, dann schoss ich durch das Tor auf die StraÃe hinaus. Ich hörte erst auf zu rennen, als ich mir sicher war, auÃer Sichtweite zu sein. Dann nahm ich meine Schulkrawatte ab und stopfte sie in meine Tasche.
Eine solche Aktion hatte mir gerade noch gefehlt. Warum war ich so blöd gewesen, mich darauf einzulassen? Ich zog meine Bluse aus dem Rockbund und machte die beiden oberen Knöpfe auf. An meinem Schulblazer konnte ich nicht viel ändern, also lieà ich ihn, wie er war. Sollte ich meinen Rock ein paar Zentimeter kürzer machen und den Bund einrollen, so wie viele Mädchen aus meiner Schule? Ich fand allerdings, je weniger man von meinen Beinen sah, desto besser. Wenn ich doch bloà einen Spiegel hätte! Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare, aber mir war klar, dass es nicht viel nützen würde. Ich würde trotzdem so kindlich aussehen, wie ich nun mal war, daran war einfach nichts zu ändern.
Er stand neben dem Fahrkartenautomaten an der Station Embankment.
Alles wird gut, sagte ich mir immer wieder. Er wird nicht sauer sein, weil ich ihn angelogen habe.
Sein Blick klebte an der Bahnhofsuhr. Er war beinahe genauso angezogen wie auf dem ersten Foto, das er mir geschickt hatte, und wirkte cool und erwachsen. So langsam wie möglich ging ich auf ihn zu.
Er schaute sich um und nahm mich wahr, ehe er wieder auf die Uhr schaute. Ich holte Luft.
»Hi. Ich bin Ros.«
Ganz langsam drehte er den Kopf. Und starrte mich an.
7. Weg
Jonathan
14.00 Uhr
Plötzlich stand da dieses Mädchen neben mir. Ich hätte sie glatt für einen Jungen gehalten, wenn sie keinen Rock angehabt hätte. Sie klammerte sich so an ihren Rucksackriemen, dass ihre Fingerknöchel ganz weià waren. Zwischen all den Büroangestellten in der Mittagspause wirkte sie klein und verloren.
»Hi. Ich bin Ros«, sagte sie.
Im Kopf blätterte ich zurück zu den beiden Mädchen auf dem Foto. Eine war hübsch gewesen, mit langen Haaren, coolen Klamotten und einer tollen Figur. Die andere jungenhaft und schätzungsweise dreizehn. Ich hatte keinen zweiten Blick für sie übrig gehabt.
»Tut mir leid, dass ich dich angelogen hab.«
Ich merkte, dass ich sie anstarrte, und guckte weg.
»Ros? Wie alt bist du?«, fragte ich.
»Vierzehn.« Pause. »Einhalb.«
Mannomann. Ich hatte mein Innerstes einem Kind anvertraut.
»Ich dachte, du willst garantiert nicht mit mir reden, wenn ich sage, wer ich wirklich bin«, sagte sie.
Ich lief im Kreis herum und atmete konzentriert.
»Hättest du auch nicht getan, oder?«
Ich sah sie flüchtig an. Es war unheimlich, die Stimme, die ich dem tollen Mädchen zugeordnet
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