Wo Elfen noch helfen - Walter, A: Wo Elfen noch helfen
Drachen aussehen. Die Sinfonie des Regens prasselt auf die Windschutzscheibe. An der Küste von Vík krachen dicke Wellen ans schwarze Ufer und schäumen dort vor weißer Gischt. Die spitzen Felsen, die hier dramatisch aus dem Wasser ragen, sind versteinerte Trolle, heißt es. Sie wollten einen Dreimaster an Land ziehen. »Darüber vergaßen sie jedoch die Zeit und erstarrten zu Stein, als sie vor dem Erreichen des schützenden Berges vom Schein der aufgehenden Sonne getroffen wurden.« So steht es auf einem Schild am Wegesrand. Die Informationstafeln in Island sind übrigens bemerkenswert. Sie versorgen einen nicht nur mit Sachinformationen über die Landschaft, sondern auch mit Sagen, Mythen und Legenden, und die sind in diesem Land nun einmal mindestens genauso wichtig. Dem, der durch diese Landschaft fährt, leuchtet das sofort ein. Im Grunde ist es unmöglich, nicht an Trolle oder Elfen zu glauben. Oder an Wesen jeglicher Art, die in den Felsen und Bergen und Gletscherspalten ein paralleles Leben führen.
Nach Vík kommt die Ebene Mýrdalssandur. Sie ist aus schwarzem Sand, im Hintergrund liegen Berge und der Gletscher Mýrdalsjökull, über dem ein paar Wolken hängen. Dennoch kann der Blick unendlich in die Weite schweifen bis zu den feinen Zeichnungen der Bergrücken im Sonnenlicht. Man kann sich kaum sattsehen an der Schönheit der Natur, die trotz ihrer Wildheit unendliche Ruhe ausstrahlt. Besonders die Gletscher demonstrieren eine ergreifende Gelassenheit. Dabei liegt unter dem Gletscher Mýrdalsjökull der Vulkan Katla, einer der gefährlichsten des Landes. Sein Name geht zurück auf eine Geschichte aus dem Mittelalter. Damals befand sich hier ein Kloster, in dem eine Köchin namens Katla arbeitete, vor der sich alle fürchteten.
Sie war schrecklich launisch und hatte magische Kräfte. Außerdem besaß sie eine Hose, mit welcher der Besitzer unendlich weit laufen konnte, ohne zu ermüden. Eines Tages, als Katla ausgegangen war und der Schafshirte Barði beim Einholen der Schafe nicht alle fand, zog er heimlich ihre Hose an. Katla kam dahinter und wurde darüber so wütend, dass sie Barði in einem Fass saurer Molke ertränkte und darin die Leiche versteckte. Der Winter nahm seinen Lauf, doch je mehr von der Molke verbraucht wurde, desto wahrscheinlicher wurde die Entdeckung des Toten. »Bald wird Barði auftauchen«, murmelte Katla vor sich hin. »Bald wird er auftauchen.« Als sie ihre Tat nicht länger verstecken konnte, zog sie ihre Hosen an und rannte davon. Bis hinauf auf den Gletscher, wo sie sich in eine Spalte warf, aus der kurz darauf eine gewaltige Flut herausschoss. So wie es nach Vulkanausbrüchen unter Gletschern in Island oft passiert. Zuletzt brach der Vulkan 1918 aus. Man wartet also tatsächlich auf den nächsten Knall. Und solange keiner kommt, begnügt man sich eben mit den alten Geschichten. Fährt man durch die unwirkliche Landschaft, wird bald klar: Ohne Geschichten läuft in Island überhaupt nichts, liefern sie doch die Erklärungen für unerklärliche Naturphänomene.
Vor meinem Autofenster erscheint jetzt ein Regenbogen. In gleißenden Farben, violett, blau, grün, gelb, orange, rot. Man kann von einem Ende bis zum anderen sehen. Regenbögen sieht man viele in Island, weil Regen und Sonne sich stets die Hand reichen. Und im Winter sieht man hier Nordlichter. Kein Wunder denke ich, dass die Isländer so kreativ und einfallsreich sind. Diese ganze Landschaft scheint eine einzige Wunderwelt zu sein und durch ihre 30 aktiven Vulkane in einem Zustand der fortwährenden Schöpfung. Und dort, wo das Land ewig in Bewegung ist, sind die Menschen es eben auch. Es ist einfach Teil der
Natur. Ich lausche der Musik von Sigur Rós . Aus den Boxen schallen liebliche, sphärische Klänge. Jónsi, der Sänger, hat sich übrigens tatsächlich eine Fantasiesprache ausgedacht. Sie heißt vonlenska und das bedeutet übersetzt so viel wie »hoffnungsländisch«. Das passt auch zu dem Land, in dem das Leben oft von der Hoffnung auf bessere Zeiten geprägt ist.
Bald folgen Hügel am Wegesrand, die wie winzige Krater aussehen. Gänse fliegen über die Straße. Was die ersten Siedler wohl gedacht haben, als sie aus Norwegen kamen und in dieser merkwürdigen Welt landeten. Zu beiden Seiten der Straße türmt sich jetzt abermals ein riesiges Lavafeld. Für mich ist es eines der schönsten des Landes. Ein Meer aus runden, sanften Bögen, komplett überzogen mit samtweichem Moos. Eine Isländerin sagte
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