Wo Elfen noch helfen - Walter, A: Wo Elfen noch helfen
Reyjkavík zu ernsthaften Protesten kam. Zum ersten Mal seit dem geplanten NATO-Beitritt 1949. Demonstrieren ist man nicht gewöhnt in einem Land, in dem man die Leute auf der Gegenseite für gewöhnlich kennt, mit ihnen zur Schule ging oder mit ihnen verwandt ist. Doch jetzt waren die Isländer wütend. Von den Bankern und Geschäftsleuten, die ihr Land in die Krise gerissen hatten, fühlten sie sich betrogen und von den Politikern nicht ausreichend beschützt. Meist liefen die Demonstrationen friedlich ab. Es wurden höchstens Eier geschmissen und am Parlamentsgebäude klebte Skyr.
Im Januar 2009 dann kam es auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude zu den legendären Demonstrationen, bei denen die Menschen rhythmisch mit Löffeln auf Töpfe trommelten, weshalb ihr Protest später als die Kochtopfrevolution in die Geschichte einging. In der Nacht vom 21. auf den 22. Januar eskalierte es. Es flogen ein paar Steine und die Polizei setzte Tränengas ein. Zum ersten Mal seit 60 Jahren. Ende Januar trat die Regierung zurück.
Als zwei Jahre später der Eyjafjallajökull ausbrach, dachte ich: Endlich ist Island wieder bei seiner Kernkompetenz angelangt. Gelassen zu bleiben, wenn die Natur verrückt spielt. Während Europa es für eine Katastrophe hielt, dass man ein paar Tage lang nicht fliegen konnte, blieb man in Island ruhig. Dort lebte man schon immer mit dem Bewusstsein, dass die Natur stärker ist und mehr zu sagen hat, als das Geld und die Wirtschaft.
Trotzdem mache ich mir jetzt im Flugzeug Gedanken. Was ist aus dem Land geworden? Herrscht dort nun auch die Resignation, die man aus anderen Ländern kennt? Ist jetzt etwas in Island
eingezogen, das es dort vorher nicht zu geben schien – die Angst vor der Zukunft? Ich habe einen Monat Zeit, das herauszufinden.
Doch dann überlege ich, dass man – wenn Länder Freunde sind – sie erst wirklich kennt, wenn man sie auch in schlechten Zeiten erlebt hat. Weil man erst dann weiß, was sie wirklich zusammenhält. Vielleicht ist es gut, wieder hinzufahren, gerade jetzt. Wir landen. Und ich hoffe auf das Beste.
Als ich am Rollband stehe, das die Koffer ausspuckt, sehe ich Vigdís Finnbogadóttir. Sie hat mit mir im gleichen Flugzeug gesessen. Dieses Mal werde ich ihre Nummer wählen und sie um ein Interview bitten, denke ich. Wer kennt das Land schon besser als die ehemalige Präsidentin?
Mein Vermieter holt mich vom Flughafen ab. Die Schnellstraße nach Reykjavík ist heute teilweise vierspurig. Die Straßenlaternen leuchten und schlängeln sich in sanften Orangetönen über die Halbinsel. Ich schelte mich für mein Bedauern, dass auch hier die Moderne Einzug gehalten hat. Warum schwelgen wir bei Ländern, die wir lieben, in Vergangenheitsromantik? Wie können wir von einem anderen Land erwarten, dass alles beim Alten bleibt – wo das doch nirgends der Fall ist? Am Ortseingang nach Reykjavík steht ein Schild auf dem »EU – nei takk!« (EU – nein danke!) steht. Die EU-Bewerbung läuft, aber die Bevölkerung sei in dieser Frage gespalten, sagt mein Vermieter. In der Wohnung angekommen, nehme ich eine Dusche. Das Wasser riecht nach Schwefel. Endlich zu Hause.
Tschernobyl
Ein paar Tage später nimmt Gisli mich mit auf eine Tour. »Du hast die Krise noch nicht wirklich gesehen, oder?«, fragt er. Und tatsächlich sieht man in der Innenstadt von ReykjavÍk nichts von einer Krise. Es hängt keine Trauerwolke über der Stadt. Die Laugavegur ist voller schöner Geschäfte. Die Stühle in den Cafés und Restaurants sind stets besetzt. Sogar das neue Konzerthaus Harpa im Hafen ist fast fertig. Eine Zeit lang galt es als Symbol der Krise, weil der Bau gestoppt war. Gisli fährt mit mir in die Randgebiete der Hauptstadt. Dort, mitten in der Landschaft steht auf einmal ein weiß-roter Kasten. Gigantisch groß. Hier sollte die erste Bauhaus-Filiale Islands eröffnen, erzählt Gisli. Anfang Oktober 2008. Aber es kam nie dazu. Jetzt steht sie hier herum, leer wie sie ist.
Wir fahren durch Neubaugebiete, in denen Häusergerippe ohne Fenster stehen. Geistersiedlungen halbfertiger Träume vom eigenen Designer-Eigenheim. Denn dass diese Häuser einmal sehr schick werden sollten, kann man sehen. Allerdings ist nur ab und zu eines bewohnt. »Die leeren Häuser sehen aus wie Totenschädel«, findet Gisli. Neben einigen stehen Schilder. »Til
sölu« steht darauf – zu verkaufen. Aber wer kauft jetzt schon? Wir fahren weiter und sehen geschlängelte Straßen, die durch Lavafelder
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