Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wo geht's hier nach Arabien

Titel: Wo geht's hier nach Arabien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Springer
Vom Netzwerk:
entgehen, und so schippert man im Kreis mehrerer Bekannten ab November 1910 erst nach Algier, dann nach Tunis, Karthago und Kairouan. Silvester wird in Neapel gefeiert.
    Am Heiligedreikönigstag des neuen Jahres besteigen sie das Schiff nach Alexandria, und vier Tage später sitzt man schon bequem an Deck von » Ramses the Great«, einem Nildampfer, der sie zu allen bekannten Sehenswürdigkeiten des alten Ägypten bringen wird. Irgendwo dazwischen scheint die Leidenschaft des Paares auf Zeit baden gegangen zu sein. Rilke schreibt: » Ich könnte umkehren.« Natürlich nicht wegen der Dame. Nein, nicht der Liebesschmerz ist schuld an der plötzlichen Lust abzureisen, sondern die unüberschaubare Masse an nicht zu bewältigenden Ruinen, dieses Hereinstürzen der Historie auf den Menschenwurm, so und so ähnlich klangen die Ausreden Rilkes.
    Jede Frauenzeitschrift aus dem Lesezirkel eines gewöhnlichen Vorstadtfriseurs wüsste hier sofort Bescheid. Ein Mann, Mitte dreißig, kaputte Ehe, offensichtlich bindungsunfähig, weil er nicht einmal in der anregenden Luft des Südens ein flüchtiges Verhältnis aufrechterhalten kann. Und die Kummertante des Blattes würde messerscharf wie immer analysieren: Finger weg, der Mann gehört in Therapie! Familienaufstellung, Rebirthing, Supervision und tiefenpsychologische Ausgrabungen in der Kindheit. Und tatsächlich! Rilke hatte eine Kindheit! Keine schöne, harmonische, mit Lämmchen auf der Wiese und strahlenden Müttern, Großmüttern und Urgroßmüttern in der Stube. Eher eine schwierige und kümmerliche, also eine für diese Epoche völlig normale Kindheit. Seine ältere Schwester war als Kind gestorben. Rilke war nun Stammhalter. Doch als er neun Jahre alt ist, geht die Mutter, verlässt Mann, Haus und Kind. Mama war eine ehrgeizige Tochter aus gutem Hause, Papa war frustriert, weil aus der Offizierskarriere nichts geworden war. Der Gescheiterte musste die Familie als Bahnbeamter durchbringen. Was Papa nicht schafft, soll der Sohn nun richten. Der künstlerisch begabte kleine Rilke wird in die Militärausbildung gesteckt. Als er wieder herauskommt, hat auch er keine Offiziersknöpfe, dafür ein Trauma.
    Eine beträchtlich ältere Frau, die Literatin Lou Andreas-Salomé zieht den 21-jährigen Rilke in ihren Bann und wird seine Muttergeliebte. Der Versuch der Ehe mit Clara, aus der eine Tochter hervorgeht, scheitert. Finanzielle Sorgen sind ständige Begleiter. Und dann eben diese Jenny, die ein Abenteuer sucht, was sich in der ägyptischen Luft verflüchtigt zu haben scheint. In einem späteren Brief an eine Freundin liest sich das wenig schmeichelhaft. Rilke, schreibt Jenny, sei » völlig unfähig, sich in der Realität des täglichen Lebens zurechtzufinden« und er sei » gar kein Mann, sondern ein lächerlich-hypersensibles Wesen«.
    Es ist anzunehmen, dass die kleine Reisegruppe um Rilke herum ausreichend Spaß erlebt. Man hat Geld, man hat Zeit, was kostet die Welt? Im Bauch des Nildampfers stapeln sich Brandy, Wein und Likör. Angenehme Lüftchen wehen, die Geschichte der menschlichen Zivilisation ist zum Greifen nah. Nur der Dichter zickt. Der hagere Mann mit Schnauzbart geht nicht mehr mit von Bord, wenn die anderen die Ausgrabungen erforschen. Ägypten, wie es leibt und lebt, interessiert ihn nicht mehr, er sitzt an Deck, wälzt Bücher über das Land und seine Pharaonen und versucht, ein paar Brocken Arabisch zu lernen. Zu der Sphinx schleicht er sich nachts, die modrigen Kammern des Ägyptischen Museums sind ihm lieber als die Begegnung mit leibhaftigen Menschen. Die Gruppe hat Gaudi auf den Reiteseln, der Dichter beschäftigt sich still und intellektuell. Es braucht nicht viel, um sich vorzustellen, wie die anderen Reiseteilnehmer über ihn dachten. So jemand nervt!
    Diese anzunehmende Wahrheit taucht natürlich in den Erinnerungen nirgendwo auf. Rilke beschreibt die einsamen Stunden an Deck als » wunderbare Abende«, in denen er » eine wirkliche tiefe Besinnung« erlebt.
    Als seine Reisebegleiter, mit denen er nun über drei Monate verbracht hat, im Orientrausch weiter nach Palästina ziehen, wird Rilke krank. Das rettet die Situation. Sie trennen sich.
    Schwer angeschlagen, bezieht er für mehrere Woche ein Sanatorium im ägyptischen Helouan. Das Eintauchen in die Welt der Pharaonen war nach der

Weitere Kostenlose Bücher