Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
große Kollektive nur in Ausnahmefällen besonders kreativ oder innovativ. Den Ausdruck »Herdenmentalität« gibt es nicht ohne Grund. Als in Italien die ersten Handelszentren entstanden, entstand mit ihnen nicht wie durch Zauberhand ein höher entwickeltes, kollektives Bewusstsein. Was entstand, war ein größerer Pool von Gehirnen, die gute Ideen entwickeln und mit anderen teilen konnten. Das hat nichts mit Intelligenz der Massen zu tun, sondern mit der Intelligenz Einzelner in der Masse. Nicht das Netzwerk selbst ist klug, sondern der Einzelne wird klüger, weil er mit dem Netzwerk verbunden ist.
1964 erschien Arthur Koestlers
The Act of Creation
, ein umfassendes Werk über die Wurzeln der Innovation. Das Buch war der Versuch, zu erklären, wie bahnbrechende Ideen in Wissenschaft und Kunstentstehen. Koestlers Bestandsaufnahme reicht von Archimedes bis Einstein, von Milton bis Joyce, und im ersten Teil geht es auch um Humor, der laut Koestlers Auffassung viel mit Inspiration zu tun hat. Seine Analyse ist hochinteressant und an vielen Stellen schlichtweg brillant, aber so umfassend seine Bestandsaufnahme auch ist, ein Muster tritt mit überraschender Regelmäßigkeit immer wieder auf: Nach Koestlers Dafürhalten ist der schöpferische Akt etwas, das ausschließlich im Geist stattfindet; den vielen Umgebungen, die Innovationen fördern oder erhalten, räumt er kaum Platz ein. So findet sich im Index des Werks nicht ein einziger Eintrag zu jenem großen Kreativitätsmotor, den wir »Stadt« nennen. Koestler war ein glühender Verfechter des kreativen Potenzials, das die Begegnung zwischen den verschiedenen Geistesdisziplinen birgt. Aber er schien sich wenig für die Umgebungen zu interessieren, die jene Begegnungen überhaupt erst möglich machen: Lebens- und Arbeitsumfelder, Medienlandschaften. Grundsätzlich trifft natürlich zu, dass Ideen in Köpfen geboren werden, aber diese Köpfe stehen immer mit einem externen Netzwerk in Verbindung, die den Informations- und Inspirationsfluss bereitstellen, aus dem große Ideen entstehen.
Koestler war nicht allein mit seinem Interesse an den Wurzeln wissenschaftlicher Durchbrüche. Thomas Kuhns
Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
war zwei Jahre vor
The Act of Creation
erschienen und sollte sogar noch mehr Beachtung finden. Nach Veröffentlichung dieser beiden Werke folgten zahllose Dissertationen und wissenschaftliche Abhandlungen zu Psychologie und Soziologie des wissenschaftlichen Fortschritts. Manche davon waren semibiografische Schilderungen der Arbeitsweise berühmter Wissenschaftler, in anderen wurde in Laborversuchen die kognitive Arbeit simuliert, die für wissenschaftliche Entdeckungen nötig ist, und wieder andere Autoren interviewten prominente Wissenschaftlerund baten sie, ihre persönlichen Durchbrüche und Heureka-Momente zu schildern.
In den frühen 1990er Jahren entschloss sich der Psychologe Kevin Dunbar an der McGill University in Montreal, es einmal mit einer anderen Herangehensweise zu versuchen. Statt Biografien zu wälzen, Laborversuche anzustellen oder Wissenschaftler nach ihren größten Entdeckungen zu befragen, beobachtete er sie ganz einfach bei der täglichen Arbeit. Dunbars Herangehensweise hatte mehr mit einer Reality-TV-Show gemeinsam als mit traditioneller Forschung: In vier führenden Molekularbiologie-Instituten stellte er Kameras auf und filmte so viel wie möglich. Außerdem führte er ausführliche Interviews durch, in denen er die Forscher nach den neusten Entwicklungen in ihren Versuchen befragte und danach, wie sich ihre Hypothesen im Lauf der Arbeit veränderten, und das alles in der Gegenwart, nicht in der Rückschau. Die Videoaufnahmen und Interviews in medias res ermöglichten Dunbar, eine der größten Schwächen traditioneller Studien, die mit rückblickenden Interviews arbeiten, von vornherein auszuschalten: Menschen neigen dazu, die Entstehungsgeschichte ihrer besten Ideen zu geradlinigen Erzählungen zu verdichten. Die chaotischen und verschlungenen Wege zur Inspiration, denen sie in Wahrheit gefolgt sind, vergessen sie einfach. Dunbar nannte seine Herangehensweise »in vivo« und stellte sie damit dem »in vitro« traditioneller kognitiver Studien diametral gegenüber. Anders ausgedrückt: Dunbar untersuchte die Entstehung von Ideen nicht in der Petrischale, sondern in der freien Wildbahn.
Dunbar und sein Team transkribierten alle aufgezeichneten Gespräche und codierten sie nach einem bestimmten Schema, das es
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